Eberhard Springer
Institut für Rechtsmedizin Duisburg
Städt. Med. Dir. Dr. med. Eberhard Springer wurde am 4.9.1939 geboren. Er absolvierte seine Ausbildung zum Arzt für Rechtsmedizin am Institut für Gerichtliche Medizin der Universität Tübingen. Seit 1977 ist er an dem von der Stadt Duisburg unterhaltenen Institut für Rechtsmedizin tätig, dessen Leitung er 1987 übernahm. Das Institut versorgt die Landgerichtsbezirke Duisburg, Kleve und Krefeld. Es handelt sich um eine außeruniversitäre Einrichtung.
Mysteriöser Leichenfund: Tötungsdelikt mit Kohlenmonoxid
Am 23.12.1994 wurde um 8.24 Uhr nahe Duisburg ein Pkw-Kombi, Opel Frontera, aufgefunden, der dort offenbar schon seit längerer Zeit stand; der Motor lief, die Beleuchtung war eingeschaltet, unter dem Auspuff fand sich eine größere Kondenswasserlache. Türen und Fenster des Fahrzeugs waren geschlossen. Im Fahrzeug fand sich eine leblose männliche Person, die angegurtet war; der Oberkörper war auf den Beifahrersitz geneigt. Da nicht unmittelbar feststellbar war, ob der Mann, bei dem es sich um den Halter des Fahrzeugs handelte, noch lebte, wurde eine Notärztin beigezogen, die sofort Reanimationsmaßnahmen einleitete und den Transport in das nächstgelegene Krankenhaus veranlasste. Der Mann verstarb hier um 8.55 Uhr. Die Ermittlungen der Kriminalpolizei ergaben, dass es sich bei dem Verstorbenen um den 33 Jahre alten Bürokaufmann W.S. handelte, der seit einigen Monaten mit seiner Lebensgefährtin E.K. ca. zwei Kilometer vom Auffindeort entfernt zusammen lebte. Diese gab an, er sei am Morgen gegen 4.30 Uhr mit seinem Pkw zu seiner Arbeitsstelle in Duisburg aufgebrochen. W.S. sei ihres Wissens nie ernsthaft krank gewesen und habe auch keine Suizidabsichten geäußert.
Nachdem W.S. im Krankenhaus verstorben war, fiel im Bereich sich der entwickelnden Leichenflecken, die normalerweise von violetter Färbung sind, eine allgemeine hellrote Verfärbung auf. Dieser ungewöhnliche Befund ließ den Verdacht auf eine Kohlenmonoxidvergiftung aufkommen. Aus diesem Grunde wurde unmittelbar eine Blutprobe entnommen, deren Analyse einen erheblich erhöhten Kohlenmonoxid- Hämoglobinwert von 49% aufdeckte. Daraufhin liefen noch am gleichen Tag umfängliche Ermittlungen der Kriminalpolizei an.
Befragungen zur Opferpersönlichkeit ergaben, dass W.S. beim Wiegedienst der Thyssen-Stahl-AG tätig war. Im privaten Bereich hatte er in den zurückliegenden Jahren mit verschiedenen Frauen zusammen gelebt, war auch verheiratet gewesen; die jeweiligen Verbindungen hatten jedoch nie lange gehalten mit der Folge, dass es bei W.S. immer wieder zu depressiven Phasen gekommen war. Er hatte auch wiederholt Suizidabsichten geäußert, wobei er diese dahingehend konkretisiert hatte, dass er mit seinem Auto gegen eine Wand oder eine Leitplanke fahren würde. Seine letzte Lebensgefährtin hatte er über eine Kontaktanzeige kennen gelernt; die Verbindung zu E.K. soll nach Angaben von Verwandten und Bekannten glücklich gewesen sein.
Im Hinblick auf den toxischen Kohlenmonoxid-Hämoglobin-Gehalt wurde von der Staatsanwaltschaft Duisburg die Leichenöffnung angeordnet, die noch am gleichen Tag durchgeführt wurde. Im Ergebnis wurde festgestellt, dass eine gewaltsame Todesursache nicht vorlag; an den inneren Organen fand sich eine deutliche Rechtsherzverdickung, sonstige wesentliche krankhafte Organbefunde waren nicht zu erheben. In der Magenschleimhaut fanden sich flohstichartige Blutungen als Hinweis auf einen Schockzustand; auch an den Lungen wurden Schockzeichen festgestellt. Eine bei der Obduktion entnommene Blutprobe wies einen Kohlenmonoxid-Hämoglobin- Gehalt von 47,1% auf; eine Alkoholisierung lag nicht vor; eine anderweitige Vergiftung konnte durch ergänzend durchgeführte chemisch-toxikologische Untersuchungen ausgeschlossen werden. Nach diesen Untersuchungen war also davon auszugehen, dass der Tod durch eine Kohlenmonoxidvergiftung eingetreten war, wobei der tatsächlich gemessene Kohlenmonoxid-Hämoglobin-Wert durch eine intensive Sauerstoffbeatmung im Rahmen der Wiederbelebungsmaßnahmen offenbar vom Ausgangswert teilweise abgesenkt worden war.
Bei der weiteren Ermittlungsarbeit der Kriminalpolizei standen nun drei Arbeitshypothesen im Raum: In Anbetracht der Vorgeschichte war ein Selbstmord durch Einatmung von Kohlenmonoxid in Betracht zu ziehen; da W.S. in einem PKW aufgefunden worden war, musste an einen Unglücksfall durch einen technischen Defekt des Fahrzeugs gedacht werden; in Betracht kam aber natürlich auch ein Tötungsdelikt durch Beibringung von Kohlenmonoxid. Die in Erwägung gezogenen Möglichkeiten des Geschehensablaufes waren durch entsprechende gutachterliche Untersuchungen abzuklären.
Zunächst und vordringlich wurden Ermittlungen zur Frage eines Selbstmords durch Einatmung von Kohlenmonoxid angestellt: Ein Abschiedsbrief wurde nicht gefunden, was aber einen Suizid naturgemäß nicht ausschließt. Die Suche nach der Kohlenmonoxid-Quelle war von eminenter Bedeutung; ein Testkauf führte zu dem Ergebnis, dass es jederzeit möglich war, sich im Handel eine mit Kohlenmonoxid- Gas gefüllte Druckflasche zu besorgen. Eine solche Flasche war im Fahrzeug nicht aufgefunden worden; im Falle einer Selbsttötung hätte W.S. eine solche Flasche dem gemäß beseitigt haben müssen, nachdem er seinen Pkw selbst geflutet hatte. Es wurde also nahe der zurückgelegten Fahrstrecke eine intensive Suche, beispielsweise in Müllcontainern, im Straßengraben usw. eingeleitet unter der Vorstellung, dass W.S. die Flasche unterwegs nach Flutung des Fahrzeugs mit dem Gas entsorgt haben könnte. Diese Suche verlief negativ, sodass letztlich die Selbstmordtheorie ad acta gelegt wurde.
Parallel zu diesen Ermittlungen stand die Untersuchung des Fahrzeugs im Vordergrund, die von der DEKRA vorgenommen wurde. Bei dem Pkw handelte es sich um einen Opel Frontera Sport 2.0 i, der 1994 neu zugelassen worden war und dessen Laufleistung 10400 km betrug. Die Sichtprüfung ergab keinerlei technische Defekte, insbesondere lagen keine Undichtigkeiten an der Auspuffanlage vor. Es wurde auch überprüft, ob möglicherweise ein Radwechsel an den Hinterrädern stattgefunden hatte, in dessen Verlauf es u.U. zu einer Einatmung von Auspuffgasen bei laufendem Motor gekommen sein könnte; ein solcher Radwechsel hatte aber nicht stattgefunden. Insgesamt ergaben sich keinerlei Hinweise für technische Defekte, für eine Manipulation am Motor und/oder der Auspuffanlage oder für ein ungewolltes oder gewolltes Einleiten von Auspuffgasen in den Fahrzeuginnenraum.
In Anbetracht dieser unbefriedigenden Ergebnisse bezüglich der Rekonstruktion des Geschehensablaufes begann nun die Mikrospurensuche am Fahrzeug, in deren Rahmen Folgendes festgestellt wurde: An der B-Säule der Beifahrerseite wurden minimale Lackabschürfungen an der Tür sowie der B-Säule selbst festgestellt, bei denen es sich um normale Gebrauchsspuren hätte handeln können. Es fand sich jedoch bei der weiteren Untersuchung in Höhe einer der Lackabsplitterungen eine in gleicher Höhe liegende Beschädigung des dahinter liegenden Türdichtungsgummis, die sich als perforierend herausstellte, sodass vermutet werden musste, dass der Dichtungsgummi hier mit einem kanülenartigen Gegenstand etwa vom Durchmesser einer Kugelschreibermine durchstochen worden war. Da eine solche Beschädigung nicht mehr durch normale Vorgänge des täglichen Lebens erklärt werden konnte, drängte sich nunmehr der Verdacht auf, dass an dem Fahrzeug eine Fremdmanipulation mit Einleitung von Kohlenmonoxid in den Fahrzeugraum stattgefunden hatte.
Es entspricht rechtsmedizinischer und kriminalistischer Erfahrung, dass es sich bei Tötungsdelikten meist um so genannte Beziehungstaten handelt, bei denen der Täter im persönlichen Umfeld des Opfers zu suchen ist. Die Befragung der E.K. deckte auf, dass diese vor ihrer Verbindung mit W.S. mehrere Jahre mit A.R. zusammen gelebt hatte. Diese Verbindung war von E.K. schließlich gelöst worden, womit A.R. nicht klar gekommen war. Er hatte E.K. ständig bedrängt, zu ihm zurück zu kommen, hatte ihr häufig entsprechende Briefe zukommen lassen. Nachdem sein diesbezügliches Drängen bekannt geworden war, gehörte A.R. naturgemäß zu den in erster Linie Tatverdächtigen. Es wurden beim Amtsgericht Durchsuchungsbeschlüsse gegen den Tatverdächtigen A.R. erwirkt mit der Begründung, es bestehe der Verdacht, dass er aus Eifersucht den neuen Lebenspartner seiner ehemaligen Freundin getötet haben könne.
Am 05.01.1995 wurden das Spind am Arbeitsplatz, die Wohnung der Eltern, eine von A.R. benutzte Garage und die Wohnung der E.K. durchsucht. Dabei wurde im Spind von A.R. nun auch tatsächlich das verwendete Tatwerkzeug aufgefunden: Es handelte sich um ein Druckminderungsventil, dessen Schlauchausgang so umgebaut worden war, dass hier ein mehrere Meter langer Plastikschlauch angeschlossen werden konnte. Am anderen Ende dieses Schlauches war eine Schnellkupplung angebracht worden, sodass ein 43,5 cm langes Kupferrohr mit einem inneren Durchmesser von 1 mm und einem äußeren Durchmesser von 3 mm angekoppelt werden konnte. Das freie Ende dieses Kupferrohres war an der Spitze kanülenartig angeschliffen worden. Am Arbeitsplatz des A.R. konnte ermittelt werden, dass dort Druckflaschen mit Kohlenmonoxid in unterschiedlicher Größe und in unterschiedlichen Konzentrationen zum Einsatz kamen und damit zur Verfügung standen. Mit diesen Fakten konfrontiert, gab A.R. schließlich zu, am Abend des 22.12.1994 das Gas in das Fahrzeug seines Nebenbuhlers eingeleitet zu haben.
Zur Täterpersönlichkeit wurde ermittelt, dass es sich bei A.R., geb. 1957, um einen Mann handelte, der als Mess- und Regelmechaniker bei der Firma Thyssen Stahl angestellt war. Im Rahmen dieser Tätigkeit hatte er ständig mit verschiedenen Kalibriergasen, so auch mit Kohlenmonoxid, zu tun, sodass ihm die Gefährlichkeit von Kohlenmonoxid bekannt war. Er gab an, er habe die oben beschriebene Vorrichtung angefertigt, um sie zur Hohlraumversiegelung seines Fahrzeugs einzusetzen. Am Tattag habe er mit dem Kupferrohr die Türdichtung des Pkw durchstochen, nachdem er mit seinem Wagen neben den geparkten Pkw des W.S. gefahren sei. Er habe dann den Hahn der Gasflasche aufgedreht und das Gas etwa 15 Minuten lang eingeleitet. Er habe sich ausgerechnet, dass sich auf diese Weise ca. 150 Liter Gasgemisch im Fahrzeuginneren befinden müssten, das Volumen des Pkw hatte er dabei auf 1000 Liter geschätzt. Er sei davon ausgegangen, dass sich bis zum Fahrtantritt des W.S. am nächsten Morgen durch die »Zwangslüftung« des Pkw die Kohlenmonoxid-Konzentration im Fahrgastraum soweit verdünnt haben müsste, dass sich nur noch eine nicht mehr tödliche Kohlenmonoxid-Menge im Pkw befunden hätte. Sein Ziel sei es gewesen, dem neuen Lebensgefährten der E.K. das Weihnachtsfest zu verderben, in dem er ihm Kopfschmerzen und sonstige Beschwerden habe bereiten wollen. A.R. habe ihn keinesfalls töten wollen. Zudem sei er davon ausgegangen, dass W.S. seinen Pkw erst am nächsten Morgen gegen 8.00 Uhr benutzen werde. Noch während der Zeit, in der er das Gas in den Pkw eingeleitet habe, sei W.S. erschienen, um seinen Pkw in Betrieb zu nehmen. Er habe sich gerade noch vom Tatort entfernen können, sei dann den Weg abgefahren, den W.S. seiner Kenntnis nach nehmen werde. Nachdem er den Pkw des W.S. zunächst nicht gefunden habe, habe er den Wagen dann an der späteren Auffindestelle gesichtet und festgestellt, dass der Fahrer am Steuer zusammengebrochen war. Er sei nun davon ausgegangen, dass er W.S. nicht mehr helfen könne und habe sich entfernt. Schon auf der Fahrt sei ihm dann klar geworden, dass sich im Fahrzeuginneren eine Kohlenmonoxid-Konzentration von ca. 5%, entsprechend ca. 50000 ppm1 befunden habe, wobei ihm auch klar gewesen sei, dass bereits eine Konzentration von 10000 ppm tödlich sei. Die Möglichkeit, das Leben des W.S. noch zu retten, nahm A.R. nicht wahr. So hätte er beispielsweise die Türen des Fahrzeugs nur öffnen müssen, um den Pkw zu belüften; er hätte W.S. aus dem Wagen ziehen und Wiederbelebungsmaßnahmen einleiten können, auch hätte er über das in seinem Besitz befindliche Handy die Rettungswache verständigen können.
Im August 1995 fand die Hauptverhandlung vor dem Schwurgericht Duisburg statt. A.R., dem der psychiatrische Gutachter einen Intelligenzquotienten von 124 bescheinigte, ließ sich dahingehend ein, dass er W.S. nicht habe umbringen wollen – »Ich wollte den Kerl nicht vergiften.« Sein Ziel sei es gewesen, dass W.S. nach Einatmung der Restmengen des Gases in den nächsten Tagen unter Kopfschmerzen leiden solle. Unglücklicherweise habe W.S. seinen Weg zur Arbeit bereits um 4.30 Uhr und nicht erst, wie von ihm angenommen, gegen 8.00 Uhr angetreten. Der Tatablauf wurde von Seiten des psychiatrischen Gutachters als »geplant, vorbereitet und zielstrebig ausgeführt« bewertet, wobei die hohe Intelligenz des Täters zu berücksichtigen war. Dem Einwand der Verteidigung, A.R. habe im Zustand verminderter Schuldfähigkeit gehandelt, folgte das erkennende Gericht nicht. Wegen bestehender Restzweifel sah es von einer Verurteilung wegen Mordes ab; A.R. wurde wegen »Vergiftung mit Todesfolge« zu einer Freiheitsstrafe von 13 Jahren verurteilt.
Fußnoten
1 ppm = parts per million (ein Teil auf eine Million Teile)
[Die unglaublichten Fälle der Rechtmedizin: Mysteriöser Leichenfund: Tötungsdelikt mit Kohlenmonoxid.: Markus A. Rothschild: Die unglaublichsten Fälle der Rechtsmedizin, S. 419
(vgl. Rechtsmedizin, S. 264 ff.)] Gemeinfrei