MORDFALL HANNA W. (23 †), ASCHAU - CHIEMGAU, 2022

ÖFFENTLICHE DISKUSSION
Fälle: Milina K.(Luckenwalde) neu, Anja Aichele, Ayleen Ambs, Vierfachmord von Annecy 2012, Bärbel B. (Bremerhaven) u. Ingrid R. (Bremen), Annika Brill, Tristan Brübach, Christoph Bulwin, Anne D. (Lorch), Suzanne Eaton, Michaela Eisch, Victor Elling, Sonja Engelbrecht, Trude Espas, Regina Fischer, Abby G. & Libby W. (USA-Indiana), Maren Graalfs, Valeriia Gudzenko, Mara-Sophie H. (Kirchdorf), Marion & Tim Hesse, Jutta Hoffmann, Bärbel K. (Lübeck), Peggy Knobloch, Cindy Koch, Martina Gabriele Lange, Lola (FR-Paris), Karl M. (Berlin), Khadidja M. (Ingolstadt), Stefan M. (Salzgitter), Jelena Marjanović, Margot Metzger, Karin N. (Borchen), N. N. (Lampertheim), Gabby Petito, Heike Rimbach, Elmar Rösch, Gustav Adolf Ruff, Carina S. (Iserlohn), Hannah S. (Hamm), Lena S. (Wunsiedel), Gabriele Schmidt, Mord in Sehnde-Höver, Yasmin Stieler, Simone Strobel, Elisabeth Theisen, Karsten & Sabine U. (Wennigsen), Nicky Verstappen, Hanna W. (Aschau)
Lento
Beiträge: 42
Registriert: Donnerstag, 17. April 2025, 13:07:20
Kronen:
Sterne:

Re: MORDFALL HANNA W. (23 †), ASCHAU - CHIEMGAU, 2022

Ungelesener Beitrag von Lento »

Catch22 hat geschrieben: Mittwoch, 06. August 2025, 02:47:33Der Fall Möhlmann ist ein gutes Beispiel dafür, weshalb es im Fall Hanna ganz anders ist:

Im Fall Möhlmann spielten der dringende Tatverdacht und die diesem zugrundeliegenden Tatsachen keine Rolle. Entscheidungserheblich war allein die verfassungsrechtliche Frage, ob § 362 Nr. 5 StPO mit dem Verbot der Mehrfachverfolgung (Art. 103 Abs. 3 GG) vereinbar ist oder nicht. Dies ist eine reine Rechtsfrage, unabhängig von zu einer etwaigen Tat möglicherweise festgestellten Tatsachen. Bejaht das BVerfG die Verfassungswidrigkeit, wird damit auch der Haftbefehl aufgehoben oder außer Vollzug gesetzt.

Anders im Fall Hanna: Auch wenn das LG-Urteil mit all seinen Feststellungen zum Sachverhalt aufgehoben wurde, gibt es eine Anklage, die von Aßbichlers Kammer zum Hauptverfahren zugelassen worden war, sowie zahlreiche tatsächliche Erkenntnisse – die nun neu bewertet werden müssen. Dies ist Aufgabe der neuen Tatsacheninstanz, nicht des Revisionsgerichts (BGH). Davon betroffen war zunächst die Frage der U-Haft.
Diese Frage spielt bei der U-Haft-Frage so gut wie keine Rolle. Bei der U-Haft-Frage geht es rein um die Interessenabwägung, die in jedem Teil eines Verfahrens erfolgen muss. Im Fall Möhlmann war es klar, dass ein dringender Tatverdacht gegeben war.

Gerade vor diesem Hintergrund ist es noch weniger verständlich, warum diese durch den BGH nicht erfolgte.

Im vorliegenden Fall war der dringende tatverdacht alles andere als klar. Worauf sich die StA ursprünglich gestützt hatte, wäre in Wirklichkeit bei der Anwendung rechtlicher Regeln zusammengebrochen. Ein Schuldspruch hätte allenfalls nur noch auf der Aussage des JVA-Zeugen basieren können, zu dem jedoch kein psychologisches Gutachten erstellt wurde. Schon allein das Lesen des Urteils zeigt klare Zeichen, dass diese Aussage niemals ausreichend belastbar gewesen war, das Ergebnis des Gutachtens war in Wirklichkeit keine Überraschung. Das waren alles schwerste Versäumnisse der StA/Gerichte und damit des Staates, daran hatte der Verurteilte nicht den geringsten Anteil. Die lange Verfahrensdauer hatte einzig und allein der Staat verschuldet. Das hätte in der Interessenabwägung berücksichtigt werden müssen.

Wie das BVerfG im Fall Möhlmann hätte der BGH in Wirklichkeit schon Anfang April diese Interessenabwägung durchführen müssen. Natürlich hätte es dazu diese schweren Fehler berücksichtigen und dann entsprechend die U- Haft aussetzen müssen. Jedoch wählte der BGH den Weg des nur für sich geringsten Widerstandes. Das mag an der zu geringen Personaldecke liegen, für rechtliche Frage ist das jedoch irrelevant.

Wie gesagt, ich bleibe bei meiner Ansicht, dass der BGH in diesem Fall seiner Aufgabe nicht ausreichend nachgekommen war und hat damit solchen Leuten wie Holderle etc. Munition geliefert. Bei einer rechtlich notwendigen Entscheidung wäre wahrscheinlich auch Holderle die Fantasie ausgegangen bzw. hätte kaum mehr ein Sprachrohr gefunden (von Blättern abgesehen, welche so etwas politisch nutzen wollen, aber auch die hätten dann wahrscheinlich auch davon die Finger gelassen).
Catch22 hat geschrieben: Mittwoch, 06. August 2025, 02:47:33Warum sollte es bei der Justiz besser sein?
Von der Justiz sollte man mehr erwarten, denn genau das wird als Begründung für die richterliche Unabhängig angesehen.
Catch22 hat geschrieben: Mittwoch, 06. August 2025, 02:47:33Käme es darauf überhaupt noch an, wenn wir eines Tages als Billiglohnland die Jeans für China nähen?
Ja, da gebe ich Dir recht, so kann es kommen. China war in den letzten Jahrzehnten sehr geschickt und hat die Schwächen der westlichen Welt für sich voll ausnutzen können. Ähnlich wie in der Politik regieren auch dort nur kurzfristige Ziele. Man orientiert sich hauptsächlich nur nach dem Aktienkurs. Und das hat China eben ausgenutzt, in dem es mit ihrem Niedriglohn auch Schlüsselindustrien dort hingelockt hat. So musste China keine Industriespionage betreiben, die Unternehmen lieferten China das Knowhow frei Haus, man wollte diese Gefahr nicht sehen. Aber so ist nun mal der Lauf der Welt.

“Hochkulturen“ gehen immer wieder unter. Die Ursachen sind meist ähnlich. Schlimm ist es, dass diese “Hochkultur“ auf Kosten der gsamten Umwelt und wertvollen Bodenschätzen nur existiert, eine vom Menschen gesteuerte Änderung ist nicht in Sicht.
Catch22
Beiträge: 1052
Registriert: Sonntag, 10. Juli 2022, 21:33:56
Kronen:
Sterne:

Re: MORDFALL HANNA W. (23 †), ASCHAU - CHIEMGAU, 2022

Ungelesener Beitrag von Catch22 »

Lento hat geschrieben: Mittwoch, 06. August 2025, 07:16:17 Diese Frage spielt bei der U-Haft-Frage so gut wie keine Rolle. Bei der U-Haft-Frage geht es rein um die Interessenabwägung, die in jedem Teil eines Verfahrens erfolgen muss. …
Bei der Prüfung des dringenden Tatverdachts (U-Haft) geht es vordringlich nicht um eine Interessenabwägung, sondern um die Bewertung von Tatsachen, die einen dringenden Tatverdacht begründen könnten. Deshalb ist diese Prüfung einer Tatsacheninstanz vorbehalten.

Im Fall Möhlmann indessen kam es ausnahmsweise auf die Prüfung eben jener Tatsachen gar nicht an, weil das Verfahren an einer übergeordneten Rechtsfrage, namentlich an der Verfassungswidrigkeit der Mehrfachverfolgung, scheiterte.

Lento hat geschrieben: Mittwoch, 06. August 2025, 07:16:17 … Jedoch wählte der BGH den Weg des nur für sich geringsten Widerstandes. …
Nein. Der BGH wählte den einzigen Weg, der ihm erlaubt und geboten war: Er hob das Urteil auf und verwies die Sache zurück an die Tatsacheninstanz (LG) – zur erneuten Beweisaufnahme, Beweiswürdigung und neuerlichen Überzeugungsbildung hinsichtlich der Schuld oder Unschuld bzw. des Vorliegens eines dringenden Tatverdachts (U-Haft).

Lento hat geschrieben: Mittwoch, 06. August 2025, 07:16:17 … Im vorliegenden Fall war der dringende Tatverdacht alles andere als klar. Worauf sich die StA ursprünglich gestützt hatte, wäre in Wirklichkeit bei der Anwendung rechtlicher Regeln zusammengebrochen. …
Ja. Dennoch handelt es sich hierbei um die erforderliche Feststellung und (Neu-) Bewertung von Tatsachen. Dies steht dem BGH als Revisionsgericht nicht zu.
Lento
Beiträge: 42
Registriert: Donnerstag, 17. April 2025, 13:07:20
Kronen:
Sterne:

Re: MORDFALL HANNA W. (23 †), ASCHAU - CHIEMGAU, 2022

Ungelesener Beitrag von Lento »

Catch22 hat geschrieben: Mittwoch, 06. August 2025, 12:25:04 Bei der Prüfung des dringenden Tatverdachts (U-Haft) geht es vordringlich nicht um eine Interessenabwägung, sondern um die Bewertung von Tatsachen, die einen dringenden Tatverdacht begründen könnten. Deshalb ist diese Prüfung einer Tatsacheninstanz vorbehalten.

Im Fall Möhlmann indessen kam es ausnahmsweise auf die Prüfung eben jener Tatsachen gar nicht an, weil das Verfahren an einer übergeordneten Rechtsfrage, namentlich an der Verfassungswidrigkeit der Mehrfachverfolgung, scheiterte.
Es ist auch eine Frage der Interssenabwägung. Denn auch wenn dringender Tatverdacht vorliegt, kann diese zu einer Freilassung führen. Wie gesagt, im Fall Möhlmann das BVerfG hat einen Interessenabwägung durchgeführt, welche Du in den Beschlüssen nachlesen kannst. Sie ist auch vollkommen stichhaltig und bewertet nicht den wahrscheinlichen Ausgang der Verfassungsbeschwerde. Dein rein formelles Argument ist in Wirklichkeit nicht vorhanden. Denn diese Frage ist auch eine Frage des Grundrechts und darüber können - wie man sieht - auch nicht Tatsachengerichte entscheiden. Nach Deiner Argumentation hätte das BVerfG erst die U-Haft aufheben dürfen, nachdem es über die Verfassungsbeschwerde entschieden hatte. Zur Zeit der Aufhebung der U-Haft unter Auflage war das Egebnis noch vollkommen unklar.

Die Begründung, welche das BVerfG dort liefert ist 1:1 auch auf den vorliegenden Fall übertragbar. Mehr noch, im vorliegenden Fall war es sogar fraglich, ob überhaupt ein dringender Tatverdacht vorliegt. Heute wissen wir es, einen Grund gab es nur wegen der extrem mangelhaften Bearbeitung der Justiz über mehr als 2 1/2 Jahre (dazu rechne ich nun auch den Bweschluss des BGHs). Wirklich existent war der nie. Insofern war hier eine Entlassung aus der U-Haft durch den BGH unter Auflagen in Wirklichkeit zwingend.
Catch22
Beiträge: 1052
Registriert: Sonntag, 10. Juli 2022, 21:33:56
Kronen:
Sterne:

Re: MORDFALL HANNA W. (23 †), ASCHAU - CHIEMGAU, 2022

Ungelesener Beitrag von Catch22 »

Lento hat geschrieben: Mittwoch, 06. August 2025, 14:54:31 … im Fall Möhlmann das BVerfG hat einen Interessenabwägung durchgeführt, welche Du in den Beschlüssen nachlesen kannst. …
In den Beschlüssen des BVerfG vom 14.07.2022 und vom 20.12.2022 ging es nur um die Folgenabwägung im Zuge einer einstweiligen Anordnung32 BVerfGG). Das Vorliegen eines dringenden Tatverdachts wurde offenkundig gar nicht in Zweifel gezogen. Und das die Hauptsache abschließende Urteil des BVerfG vom 31.10.2023 behandelte ausschließlich die verfassungsrechtliche Prüfung von § 362 Nr. 5 StPO, an deren Ende die Zurückverweisung an das LG stand, das eingangs die verfassungswidrige Wiederaufnahme des Verfahrens angeordnet hatte.

Spoiler – hier klicken!

Der Senat kommt in einer Folgenabwägung zu dem Ergebnis, dass die Nachteile, die einträten, wenn eine einstweilige Anordnung nicht erginge, der Antrag aber in der Hauptsache Erfolg hätte, gegenüber den Nachteilen, die entstünden, wenn die begehrte einstweilige Anordnung erlassen würde, dem Antrag in der Hauptsache aber der Erfolg zu versagen wäre, überwiegen. Dies gilt allerdings nur unter der Voraussetzung, dass geeignete, im Vergleich zur Untersuchungshaft weniger eingreifende Maßnahmen zur Minimierung der Fluchtgefahr getroffen werden.


Beschluss BVerfG vom 14.07.2022, 2 BvR 900/22, Pressemitteilung
https://www.bundesverfassungsgericht.de ... 2-062.html

Der Senat hat die Anordnung der Aussetzung des Vollzugs der Untersuchungshaft unter den genannten Bedingungen bis zur Entscheidung in der Hauptsache, längstens für die Dauer von sechs Monaten wiederholt.


Beschluss BVerfG vom 20.12.2022, 2 BvR 900/22, Pressemitteilung
https://www.bundesverfassungsgericht.de ... 2-111.html

Gemäß § 95 Abs. 3 BVerfGG ist § 362 Nr. 5 StPO für nichtig zu erklären.

Die auf dieser Vorschrift beruhenden Beschlüsse des Oberlandesgerichts und des Landgerichts sind nach § 95 Abs. 2 BVerfGG aufzuheben, und die Sache ist an das Landgericht zurückzuverweisen.


Urteil BVerfG vom 31.10.2023, 2 BvR 900/22, Rdnr. 169–170
https://www.hrr-strafrecht.de/hrr/bverf ... 0-22-1.php

Lento hat geschrieben: Mittwoch, 06. August 2025, 14:54:31 … Die Begründung, welche das BVerfG dort liefert ist 1:1 auch auf den vorliegenden Fall übertragbar. …
Materiellrechtlich wurde vom BVerfG gar keine Entscheidung getroffen, insbesondere nicht über das Vorliegen eines dringenden Tatverdachts. Nichts aus diesen o. a. Entscheidungen des BVerfG ist 1:1 auf den Fall Hanna übertragbar.

Im Übrigen ist einstweiliger Rechtsschutz im strafrechtlichen Revisionsverfahren in der StPO gar nicht vorgesehen und einen Antrag auf einstweilige Anordnung beim BVerfG hatte die Verteidigung im Fall Hanna mangels Erfolgsaussicht nicht gestellt.
Lento
Beiträge: 42
Registriert: Donnerstag, 17. April 2025, 13:07:20
Kronen:
Sterne:

Re: MORDFALL HANNA W. (23 †), ASCHAU - CHIEMGAU, 2022

Ungelesener Beitrag von Lento »

Catch22 hat geschrieben: Mittwoch, 06. August 2025, 18:32:13Materiellrechtlich wurde vom BVerfG gar keine Entscheidung getroffen, insbesondere nicht über das Vorliegen eines dringenden Tatverdachts. Nichts aus diesen o. a. Entscheidungen des BVerfG ist 1:1 auf den Fall Hanna übertragbar.
Habe ich je behauptet, dasss der BGH über die Frage des dringenden Tatverdacht entscheiden sollte? Nein, es hätte nur die Interessen-/Folgeabwägung durchgeführt werden müssen, welche auch im Möhlmann-Fall erfolgte.

Ja, die Folge-/Interessenabwägung im Fall Möhlmann war einen Abwägung auf der Basis des grundrechtlichen Rechts.

Grundgesetz steht immer ÜBER den einfachrechtlichen Gesetzen.

Der effektive Rechtsschutz erfordert es laut BVerfG, dass Bürgern nicht durch für den speziellen Fall unsachliche Formalismen dieser Schutz verwehrt wird. Er ergibt sich aus dem Grundgesetz und steht daher über einfachrechtlichen Gesetzen, ist also bei JEDER gerichtlichen Entscheidung zu berücksichtigen.


Man darf nicht vergessen, U-Haft ist eine Freiheitsberaubung ohne Urteil. Gerichte müssen sich bewusst sein, dass sie wirklich eine Ausnahme ist. Daher müssen effektive Vorkehrungen getroffen werden, dass diese nur solange aufrecht erhalten wird, wie absolut notwendig. Daher sind solche Folge-/Interessenabwägungen im Laufe des Verfahrens - wie im Fall Möhlmann - ständig notwendig. Freiheitsberaubung ist der schwerste Eingriff in die Rechte eines Menschen, ein grundrechtlicher Verstoß, der einer Folgen-/Interessenabwägung bedarf.

In diesem Fall ist das alles nicht erfolgt und für mich ist und bleibt es ein weiteres schweres Versäumnis der Justiz (hier des BGHs). Der BGH hat ein Urteil aufgehoben. Die Karten mussten neu gemischt werden. Es war zu diesem Zeitpunkt klar, dass der Staat fast 2 Jahre auf der Stelle getreten ist. Auf Grund der hohen Länge der U-Haft von 2 1/2 ! Jahren im April 2025 und der mangelhaften Arbeit der Justiz (diese wäre bei einer vernünftigen Arbeit des BGH für diesen sichtbar geworden wäre) hätte die U-Haft aus grundrechtlichen Gründen aufgehoben werden müssen.
Catch22
Beiträge: 1052
Registriert: Sonntag, 10. Juli 2022, 21:33:56
Kronen:
Sterne:

Re: MORDFALL HANNA W. (23 †), ASCHAU - CHIEMGAU, 2022

Ungelesener Beitrag von Catch22 »

Lento hat geschrieben: Mittwoch, 06. August 2025, 19:05:55 Habe ich je behauptet, dass der BGH über die Frage des dringenden Tatverdachts entscheiden sollte? …
Egal ob über dringenden Tatverdacht, unverhältnismäßige Dauer oder andere Punkte im Prüfungsschema der U-Haft zu entscheiden ist: Ohne Tatsachenerhebung und -bewertung geht es nicht.

Lento hat geschrieben: Mittwoch, 06. August 2025, 19:05:55 … es hätte nur die Interessen-/Folgeabwägung durchgeführt werden müssen, welche auch im Möhlmann-Fall erfolgte. …
Im Verfahren über einstweiligen Rechtsschutz im Fall Möhlmann war „nur“ abzuwägen zwischen zwei alternativen Folgen:
► einstweilige Anordnung: nein, aber die Hauptsache später erfolgreich,
► einstweilige Anordnung: ja, aber die Hauptsache später erfolglos.

Die Tatsachen hingegen standen fest:
► neue Beweismittel (DNA),
► dringender Tatverdacht (Haftbefehl),
► (möglicherweise verfassungswidrige) Wiederaufnahme des Verfahrens.

Mit Wegfall der Wiederaufnahme des Verfahrens (wegen Verfassungswidrigkeit) sind neue Beweismittel, dringender Tatverdacht und Haftbefehl Makulatur – ohne dass sich am Status der Tatsachen auch nur das geringste geändert hätte.

Lento hat geschrieben: Mittwoch, 06. August 2025, 19:05:55 … Auf Grund der hohen Länge der U-Haft … und der mangelhaften Arbeit der Justiz … hätte die U-Haft aus grundrechtlichen Gründen aufgehoben werden müssen.
Nicht durch den BGH. Der BGH hatte eine befangene Richterin erkannt und das Urteil aufgehoben. Hätte der BGH auch die Beweiswürdigung geprüft, wäre das Ergebnis dasselbe gewesen. Eine neue Erhebung und Würdigung von Beweisen aber gehört in die Tatsacheninstanz. Nur diese ist in der Lage, eine Beweisaufnahme durchzuführen. Nicht der BGH.

Selbst dann, wenn der BGH die Beweiswürdigung des ersten Rechtsgangs einzeln zerpflückt hätte, hätte er ohne eigene Beweisaufnahme zu keiner eigenen Überzeugung gelangen können. Woher hätte der BGH erahnen sollen, ob der Angeklagte dringend tatverdächtig, schuldig oder beides nicht ist? Ob und welche neuen Beweismittel es gibt? Unmöglich! Auch die Prüfung der Verhältnismäßigkeit einer mehr als 6 Monate andauernden U-Haft erfordert Anknüpfungstatsachen. Deshalb: Zurückverweisung an die Tatsacheninstanz.

Dass U-Haft immer einen massiven Eingriff in die grundrechtlich geschützten Freiheitsrechte darstellt, steht außer Frage. Die Güterabwägung zwischen den Freiheitsrechten des Menschen und dem Strafanspruch des Staates ist in den Vorschriften der StPO über die U-Haft normiert. Jede Entscheidung eines Gerichts muss sich stets am Verfassungsrecht als oberste Maxime messen lassen.

Sieht sich ein Beschuldigter oder Angeklagter in seinen Grundrechten verletzt, steht ihm der Weg zum BVerfG offen. (Zur Abwehr eines schweren, unabwendbaren Nachteils auch dann, wenn der ordentliche Rechtsweg noch nicht erschöpft ist.)

Lento hat geschrieben: Mittwoch, 06. August 2025, 19:05:55 … Daher sind solche Folge-/Interessenabwägungen im Laufe des Verfahrens - wie im Fall Möhlmann - ständig notwendig. …
Die Intervalle zulässiger Haftprüfung sind in der StPO geregelt. Eine Prüfung in Endlos-Dauerschleife wäre mal eine Idee für eine Gesetzesinitiative, die unsere Strafjustiz endgültig lahmlegen würde. ;-)

Übrigens: Die neue Kammer am LG Traunstein hatte nach Vorliegen des Stellerschen Sachverständigenbeweises sofort gehandelt und den Haftbefehl aufgehoben – mit einer Geschwindigkeit, die zumindest Holderle den Schwindel in den Kopf trieb.
Lento
Beiträge: 42
Registriert: Donnerstag, 17. April 2025, 13:07:20
Kronen:
Sterne:

Re: MORDFALL HANNA W. (23 †), ASCHAU - CHIEMGAU, 2022

Ungelesener Beitrag von Lento »

@Catch22

Wir kommen hier nicht mehr zusammen.

Du meinst ständig, dass ich glaube, dass der BGH die Frage des dringenden Tatverdachts hätte prüfen sollen. Das sehe ich nicht. Es hätte jedoch prüfen müssen, ob dem Staat so schwere Versäumnisse vorzuwerfen sind, dass die U-Haft nicht mehr verhältnismäßig ist. Die Tatsachen müssen dabei nicht neu bewertet werden, es spielt einzig und allein das bisherige Verhalten des Staates (in Person von Ermittlern/StA/Gerichten) eine Rolle. Es geht hier ur um den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz. Dieser bewirkte in Wirklichkeit im Fall Möhlmann die Entlassung aus der U-Haft unter Auflagen. Im Fall Möhlmann war der dringende Verdacht gegeben, das steht außer Zweifel. Ob der Verfassungsbeschwerde stattgegeben wird stand noch vollkommen in den Sternen (entsprechend im vorliegenden Fall der Frage des dringenden Tatverdachts). Und dieser Verhältnismäßigkeitsgrundsatz ergibt sich aus dem Grundgesetz. Nur aus diesem Grund konnte das BVerfG die U-Haft aufheben.

Wie ich schon schrieb, einfachrechtliches Recht ist dem Grundgesetz untergeordnet, d.h. Du kannst hier nicht mit einfachrechtlichem Recht kommen, wenn es um grundrechtliche Fragen geht. Dazu gehört auch die Interessenabwägung/Verhältnismäßigkeitsprüfung. Der Staat hat in dem Verfahren zweimal geschlammt und damit rund 2 Jahre Vezögerung verschuldet. Du vergisst, dass U-.Haft ein Sonderopfer ist, dass einer Verhältnissmaßigkeitprüfung unterliegt. Neue Erkenntnisse sind daher auch unabhängig von den Regeln der StPO zu berücksichtigen und zwar dann, wenn diese vorliegen. Diese haben zum Zeitpunkt der Aufhebung des Urteils definitiv vorgelegen. Denn von diesem Zeitpunkt an war klar, dass der Staat die U-Haft rechtwidrig um 2 Jahre verlängert hatte. Die Rechtwidrigkeit erfolgte übrigens auch aus dem Grundgesetz und zwar bzgl. der Nichtgewährung des gesetzlichen Richters, auch eine Regel, die ganz oben angesiedelt ist und durch kein einfachrechtliches Gesetz ausgehebelt werden darf.
Catch22 hat geschrieben: Mittwoch, 06. August 2025, 22:17:05Die Intervalle zulässiger Haftprüfung sind in der StPO geregelt. Eine Prüfung in Endlos-Dauerschleife wäre mal eine Idee für eine Gesetzesinitiative, die unsere Strafjustiz endgültig lahmlegen würde. ;-)
Die Gefahr einer Endlosschleife bei richtiger Anwendung des Rechts (hier das Grundgesetz) ist nicht vorhanden bzw. ist genauso hoch, wie bei jedem anderen Verfahren. Eine entsprechnde Überprüfung hat eben nur dann zu erfolgen, wenn sich grundsätzliches geändert hat. Etwas grundsätzliches ist z.B. die Aufhebung einen Urteils zu Gunsten des Angeklagten. Hier gibt es daher keinerlei Gefahren einer Endlosschleife wenn nicht weitere Fehler erfolgen.

Eine Frage an Dich: Wäre es nach 1 Jahr nach dem Schuldspruch nicht doch an der Zeit gewesen, wo man nicht doch die Verhältnismäßigkeit hätte prüfen müssen? Natürlich unter der Berücksichtigung der vielen Mängel im Verfahren. ZWEI Gerichte hatten versagt! Ca. 2 jahre hatte der Angeklagte ohne jeglichenFortschrittt in der U-Haft gesessen. Eigentlich sollte einem der gesunde Menschenverstand das sagen und der steht hier m.E. im Einklang mit dem Grundgesetz.
Catch22 hat geschrieben: Mittwoch, 06. August 2025, 22:17:05 Egal ob über dringenden Tatverdacht, unverhältnismäßige Dauer oder andere Punkte im Prüfungsschema der U-Haft zu entscheiden ist: Ohne Tatsachenerhebung und -bewertung geht es nicht.
Mit dieser Logik würden Menschen bis zum Sankt Nimmerleinstag in U-Haft sitzen, wenn die Strafgerichte untätig bleiben, höhere Gerichte wären machtlos. Nein so ist es nicht, irgenwann wird einer der nicht Tatsachen-Gerichte dafür sorgen, dass mittels des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes derjenige aus der U-Haft entlassen wird. Neue Tatsachen werden dazu nicht benötigt, es reichen die Fehler der Justiz und der dadurch verlorenen Zeit alleine.
Catch22
Beiträge: 1052
Registriert: Sonntag, 10. Juli 2022, 21:33:56
Kronen:
Sterne:

Re: MORDFALL HANNA W. (23 †), ASCHAU - CHIEMGAU, 2022

Ungelesener Beitrag von Catch22 »

Lento hat geschrieben: Donnerstag, 07. August 2025, 00:45:55 Wir kommen hier nicht mehr zusammen. …
So weit liegen wir doch gar nicht auseinander. Differenzen bestehen offensichtlich nur hinsichtlich der gerichtlichen Zuständigkeit.

Nach Kräften bemühe ich mich aufzuzeigen, dass die Haftentscheidung regelmäßig der Tatsacheninstanz obliegt. Auch die Prüfung der Verhältnismäßigkeit zählt dazu.

Der Antrag auf Haftprüfung im Fall Hanna dürfte stufenweise aufgebaut gewesen sein:
► Wegfall des dringenden Tatverdachts,
► hilfsweise: Unverhältnismäßigkeit der Haftdauer.
Ein grobes Prüfungsschema und die prospektiven Folgen hatte ich hier skizziert:

viewtopic.php?p=296111#p296111

Die Prüfung der Verhältnismäßigkeit der Haftdauer schließt z. B. auch das im Falle einer Verurteilung drohende Strafmaß ein. Bei Mord nach Jugendstrafrecht: i. d. R. bis zu 10 Jahre. Und hier landen wir wieder bei der Frage des dringenden Tatverdachts – wie wahrscheinlich ist eine Verurteilung überhaupt? (Allerdings setzt der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz Grenzen auch unabhängig von der zu erwartenden Strafe.) Und auch die Prüfungsmerkmale besonders schwieriger oder umfangreicher Ermittlungen oder eines anderen wichtigen Grundes für die Verzögerung des Verfahrens müssen erst einmal als Sachverhalt erforscht und festgestellt werden.

An der Tatsacheninstanz kommt man hier also nicht vorbei.

Erst wenn sowohl die Haftprüfung beim LG Traunstein als auch eine Beschwerde zum OLG München gescheitert wären, hätte eine umgehend beim BVerfG eingelegte Verfassungsbeschwerde, verbunden mit einem Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung, Erfolgsaussichten haben können.


Beispiel einer einschlägigen Entscheidung des BVerfG, mit der ein Beschluss des Berliner KG (entspricht einem OLG) aufgehoben und die Sache zur unverzüglich erneuten Entscheidung über die Fortdauer der U-Haft an die Tatsacheninstanz zurückverwiesen wurde (Rdnr. 47):

https://www.bundesverfassungsgericht.de ... 74206.html


Ein kurzer schematischer Abriss des Verfahrens:

Wenn der Ermittlungsrichter am AG den Haftbefehl erlässt und der Beschuldigte Beschwerde dagegen einlegt, landet diese beim LG. Im Hauptverfahren dagegen ist das LG für die Haftprüfung zuständig. Bleibt ein Haftprüfungsantrag dort erfolglos, führt die Beschwerde zum OLG. In Haftprüfungsfragen ist damit der Rechtsweg erschöpft. In keinem Fall wird der BGH zuständig.

Legt der Angeklagte gegen eine Verurteilung durch das LG erfolgreich Revision zum BGH ein, dann wird die Sache zur Neuverhandlung an das LG zurückverwiesen. Der BGH entscheidet nicht über die U-Haft. Zuständig für die Haftprüfung bleibt das LG. (Ausnahme: Falls der BGH im Revisionsverfahren freispricht, hebt er selbstverständlich auch den Haftbefehl auf.)

Als Ultima Ratio bleibt der Weg zum BVerfG (nicht zum BGH).

Im Vergleich dazu der Fall Möhlmann: Das LG ordnete die Wiederaufnahme des Verfahrens an und erließ Haftbefehl. Die dagegen gerichtete Beschwerde zum OLG blieb ohne Erfolg. Damit war der Rechtsweg erschöpft. Übrig blieb nur eine Verfassungsbeschwerde zum BVerfG, verbunden mit einem Antrag auf einstweilige Anordnung, die zum Ziel hatte, dass der Vollzug des Haftbefehls ausgesetzt werden sollte. Der begehrte einstweilige Rechtsschutz wurde gewährt (nach Abwägung der Folgen mit/ohne einstweiliger Anordnung bei späterer erfolgreicher/erfolgloser Entscheidung über die Verfassungsbeschwerde). Die Alternative wäre gewesen, dass das LG oder das OLG selbst die Problematik der Verfassungsmäßigkeit von § 362 Nr. 5 StPO erkannt, das Verfahren ausgesetzt und diese Frage dem BVerfG zur Entscheidung vorgelegt hätte. (Diese Alternative allein jedoch hätte noch nicht dazu führen können, dass der Haftbefehl außer Vollzug gesetzt worden wäre.)

Entscheidende Unterschiede zum Fall Hanna: Im Fall Möhlmann handelte es sich um einstweiligen Rechtsschutz, nicht um eine Entscheidung in der Hauptsache. In der Hauptsache wurde an die Tatsacheninstanz zurückverwiesen. Zu entscheiden hatte das BVerfG, nicht der BGH. Das BVerfG zählt nicht zum Instanzenzug, es ist keine „Superrevisionsinstanz“ und keinesfalls gleichrangig oder vergleichbar mit dem BGH.


Wenn nun noch immer nicht verständlich geworden sein sollte, dass nicht der BGH, sondern das LG für die Entscheidung über die U-Haft im Fall Hanna zuständig war und dass das BVerfG nicht zum Instanzenzug zählt, geb' ich's auf.

In der Frage über die Verhältnismäßigkeit der Fortdauer der U-Haft und die Bedeutung der Grundrechte teilen wir ja ohnehin dieselbe Auffassung.
Catch22
Beiträge: 1052
Registriert: Sonntag, 10. Juli 2022, 21:33:56
Kronen:
Sterne:

Re: MORDFALL HANNA W. (23 †), ASCHAU - CHIEMGAU, 2022

Ungelesener Beitrag von Catch22 »

Bild.de: Sebastian im E-Mail-Interview

Eindrücke vom neuen Leben Sebastians in Aschau vermittelt die Bild-Zeitung – zur Stunde Top-Story auf der Startseite und in der Regionalrubrik Bayern:

► nicht mehr unbegleitet auf die Straße,
► kein Umgang mehr in Aschau,
► Ausbildungsplatz zum Metallbauer verloren,
► komplettes Umfeld verloren,
► will dennoch in Aschau bleiben, weil Heimat,
► Wandern, Radfahren, Joggen, Kartenspielen, selber kochen,
► Verteidigung will Freispruch „wegen erwiesener Unschuld“.


Der Artikel in voller Länge:

https://archive.ph/20250807204339/https ... 554e9e9160

Eine gekürzte Fassung:

Spoiler – hier klicken!
In BILD berichtet Sebastian T. über sein Leben unter Mordverdacht
Ohne meine Familie gehe ich nicht mehr auf die Straße
23-Jähriger galt als Eiskeller-Killer

Bild
Sebastian T. (23) im vergangenen Jahr auf der Anklagebank … (Foto: Theo Klein / BILD)

… Zwei Jahre und sieben Monate hat Sebastian T. … im Gefängnis gesessen. Verurteilt als „Eiskeller-Killer“ … – bis er vor sieben Wochen plötzlich freigelassen wurde. … Ob T. wirklich unschuldig ist oder nicht, soll nun ein neuer Prozess klären. In BILD berichtet er von seinem neuen Leben in Freiheit. Einem Leben unter Mordverdacht.



Bild
Am 20. Juni wurde Sebastian T. … entlassen und von seiner Anwältin Regina Rick empfangen (Foto: Privat)

Handfeste Beweise, dass T. die junge Frau getötet hat, gab es nie. … Auch seine Verteidiger, die Münchner Anwältin Regina Rick sowie ihr Kollege Yves Georg, gingen stets von einem Unfall aus. …

„Ich habe keinen Umgang mehr im Ort“

Bild
Das Wandern habe er besonders vermisst: Sebastian T., hier wenige Tage nach seiner Haftentlassung (Foto: Privat)

Seitdem lebt Sebastian T. wieder daheim … BILD konnte ihm per E-Mail Fragen stellen. Den Ausbildungsplatz zum Metallbauer habe er während der Haft verloren, schreibt er. „Und auch mein komplettes Umfeld.“ Weil er für die Menschen im Ort noch immer der Mörder ist?

„Das Wandern hat mir am meisten gefehlt“

„Meine Familie ist immer mit dabei, wenn ich rausgehe“, schreibt T. „Ich habe keinen Umgang mehr im Ort.“ Dennoch will er in Aschau bleiben. Es ist seine Heimat.

In den ersten Wochen in Freiheit habe er vor allem in den Bergen Kraft getankt. „Das Wandern, das Radfahren, das Laufen… das hat mir am meisten gefehlt. Und das Kartenspielen.“ Er genieße es jetzt, mit seiner Familie „länger als nur eine Stunde“ zu verbringen, „selber etwas zu kochen“ und „mich wieder alleine bewegen zu können, ohne Überwachung“.

Er hofft auch für Hannas Familie, dass „sich alles aufklärt“

Am 29. September beginnt der Mordprozess erneut. Das erklärte Ziel seiner Verteidiger: ein Freispruch „wegen erwiesener Unschuld“, so Anwältin Rick. „Wir möchten nicht, dass auch nur ein Funken eines Verdachts kleben bleibt“, sagt die Juristin. Nur so könne T. sein Leben im Ort weiterführen.

Sebastian T. sagt mit Blick auf das Verfahren: „Ich hoffe, es klärt sich alles auf. Für meine Familie und auch für Hannas Familie.“

Bild.de am 07.08.2025, 22.40 Uhr
https://www.bild.de/regional/bayern/urt ... 554e9e9160
Lento
Beiträge: 42
Registriert: Donnerstag, 17. April 2025, 13:07:20
Kronen:
Sterne:

Re: MORDFALL HANNA W. (23 †), ASCHAU - CHIEMGAU, 2022

Ungelesener Beitrag von Lento »

Catch22 hat geschrieben: Freitag, 08. August 2025, 00:03:00Die Prüfung der Verhältnismäßigkeit der Haftdauer schließt z. B. auch das im Falle einer Verurteilung drohende Strafmaß ein. Bei Mord nach Jugendstrafrecht: i. d. R. bis zu 10 Jahre. Und hier landen wir wieder bei der Frage des dringenden Tatverdachts – wie wahrscheinlich ist eine Verurteilung überhaupt? (Allerdings setzt der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz Grenzen auch unabhängig von der zu erwartenden Strafe.) Und auch die Prüfungsmerkmale besonders schwieriger oder umfangreicher Ermittlungen oder eines anderen wichtigen Grundes für die Verzögerung des Verfahrens müssen erst einmal als Sachverhalt erforscht und festgestellt werden.

An der Tatsacheninstanz kommt man hier also nicht vorbei.

Erst wenn sowohl die Haftprüfung beim LG Traunstein als auch eine Beschwerde zum OLG München gescheitert wären, hätte eine umgehend beim BVerfG eingelegte Verfassungsbeschwerde, verbunden mit einem Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung, Erfolgsaussichten haben können.

Zu Teilen hast Du auch Recht, Du siehst jedoch noch nicht den Kern der Grundrechtsverletzung durch den BGH.

Denn Du hast einen wesentlichen Teil vergessen. Mit der Aufhebung des Urteils steht eine Mindest-Verzögerung fest, die der Staat zu verantworten hat. Und dieser Umstand ist bei der Betrachtung der Verhältnismäßigkeit ein ganz wesentliches Element.

Diese besteht aus mehreren Komponenten.

Einmal die Bearbeitungszeit von Verteidigung, StA, GStA und BGH bzgl. des Revisionsantrages und dann die Zeit der 1. Verhandlung. Hinzu kommt die Einarbeitungszeit des 1. Gerichts.
Diese Zeiten sind ohne jegliche Beweiserhebung durch das Verschulden des Staates verloren gegangen. Aus den Prozessprotokollen/Urteil wäre m.E. sicher auch ohne die Feststellung neuer Tatsachen eine frühere Zeit ermittelbar, aber das ignorieren wir hier mal.

Ich denke mir, Du wirst bestätigen, dass diese verlorene Zeit allein der Staat zu verantworten hat.


Diese Zeit kann sich nur noch erhöhen, wenn es sich herausstellt, dass auch die Ermittler mangelhafte Leistung geliefert haben. Das wäre dann aber wie Du sagst, Sache eines Tatsachengerichts (wenn es sich nicht aus dem aufgehobenen Urteil schon ergibt).

Du siehst, ohne jegliche Beweisaufnahme kann man schon auf der Basis dieser Zeit eine Verhältnismäßigkeitsprüfung durchführen. Und die kann man nicht nur, sondern bei dieser Erkenntnis muss man sie sogar, alles andere wäre einen Grundrechtsverletzung. U-Haft muss eine absolute Ausnahme bleiben. Bei einer grundsätzlichen Änderung (z.B. die Aufhebung eines Urteils), welche die Verhältnismäßigkeit in Frage stellt, muss diese erneut erfolgen. Das alles lag mit der Aufhebung des Urteils offensichtlich vor, der BGH hätte diese Verhältnismäßigkeitsprüfung durchführen müssen, denn jeder Tag zählt.

Rein theoretisch hätte diese auch negativ für den Angeklagten ausfallen können, wegen der zu erwartende hohen Strafe. Aber sie erst überhaupt nicht durchzuführen ist mit dem Grundgesetz nicht im Geringsten vereinbar. In diesem Fall dürfte diese nun verlorenen Zeit knapp 2 Jahre gewesen sein, eine doch schon erhebliche Zeit. Ob bei der Anwendung die Verhältnismäßigkeitsprüfung unter diesen Umständen kein Erfolg gehabt hätte, bezweifel ich. Selbst bei der Strafe von etwas mehr als 9 Jahren, wäre der Angeklagte möglicherweise nach etwas mehr als 6 Jahren entlassen worden. Knapp 2 Jahre U-Haft wäre da auch schon ein erheblicher Anteil, die nun durch die Aufhebungg des ersten Urteils vollkommen grundlos war, denn diese Zeit wurde in Wirklichkeit nicht genutzt, das Verfahren voran zu treiben.

Wäre diese Verhältnismäßigkeitsprüfung basierend auf diesen Vorabzeiten negativ ausgefallen, dann wäre es natürlich erforderlich gewesen, dass das LG eine bessere Überprüfung mit den wirklichen Werten durchzuführen. Das hätte dannjedoch erst eine gewisse Zeit gedauert.
Catch22
Beiträge: 1052
Registriert: Sonntag, 10. Juli 2022, 21:33:56
Kronen:
Sterne:

Re: MORDFALL HANNA W. (23 †), ASCHAU - CHIEMGAU, 2022

Ungelesener Beitrag von Catch22 »

Lento hat geschrieben: Freitag, 08. August 2025, 14:46:05 … Du siehst jedoch noch nicht den Kern der Grundrechtsverletzung durch den BGH. …
Grundrechte tangiert wurden durch den vom AG Rosenheim erlassenen Haftbefehl und durch den Beschluss des OLG München, die U-Haft über 6 Monate hinaus aufrechtzuerhalten – nicht durch den Beschluss des BGH. Der BGH hatte nur die Aufgabe, ein vorinstanzliches Urteil hinsichtlich vom Revisionsführer ausdrücklich gerügter Rechtsverstöße zu prüfen und das Urteil ganz oder in Teilen aufzuheben oder die Revision zu verwerfen. Über die U-Haft hatte der BGH nicht zu entscheiden. Eine nicht verhältnismäßige Dauer der U-Haft stellt keine zulässige Revisionsrüge dar.

Durch wen wann warum welche und wieviele Verzögerungen eingetreten sind und wie diese im einzelnen zu bewerten und einem staatlichen Handeln zuzurechnen sind (auf Verschulden kommt es hier nicht an), kann nur in einer Tatsacheninstanz aufgeklärt werden. Deshalb ist der BGH für die Haftprüfung (und eine damit verbundene Prüfung der Verhältnismäßigkeit) nicht zuständig. Freigestanden hätte dem Angeklagten, eine Verfassungsbeschwerde beim BVerfG gegen die Beschlüsse des AG und des OLG einzulegen und eine einstweilige Anordnung zu beantragen (mit höchst zweifelhaften Erfolgsaussichten).

Aus diesen Gründen verfolgte die Verteidigung umgehend nach Zustellung des BGH-Beschlusses die Haftprüfung beim LG. (Auch das LG muss die Grundrechte des Angeklagten beachten.) Dass eine profunde Ausarbeitung des Antrags noch einige Zeit in Anspruch nahm, liegt auf der Hand. Das Risiko eines Schnellschusses ins Blaue hinein wäre nicht verantwortbar gewesen und auch ein Moratorium zur Einarbeitung der neuen Kammer war angebracht. Eine richtige und kluge Vorgehensweise, über die Sebastian ganz sicher aufgeklärt wurde und mit der er offenbar einverstanden war. Lieber noch ein paar Wochen länger in Haft, als nach einer leichtfertig versägten Haftprüfung Monate auf den nach der StPO nächstzulässigen Zeitpunkt warten zu müssen und dabei zu riskieren, mit einem abgelehnten, weil dahingeschluderten Antrag einen nachteiligen Status quo zementiert zu haben.

Zudem gilt zu bedenken, dass das Fundament für mehr als 2½ Jahre U-Haft von dem (anfänglich wohl alleinigen) Pflichtverteidiger gelegt wurde. Grundlage des Haftbefehls war die Aussage von Verena R. über vermeintliches Täterwissen am Abend des 03.10.2022 bei einem Spaziergang, der in Wirklichkeit erst am Tag darauf stattgefunden hatte. Dies von der StA ermitteln zu lassen, also eine Verifizierung dieser wichtigen Zeugenaussage (z. B. durch Handy-Auswertungen) zu erzwingen, wäre Aufgabe des Pflichtverteidigers gewesen (und ein sofortiger Haftprüfungsantrag die Konsequenz). Erst RAin Rick holte dies ein Jahr später nach. Leider war bis dahin schon der Goldjunge Adrian M. in die Rolle des Hauptbelastungszeugen geschlüpft. Auch der Anklageerhebung und vor allem der Eröffnung des Hauptverfahrens war der Pflichtverteidiger nicht entgegengetreten. Ein Totalausfall, der dem Angeklagten zuzurechnen ist. Ganz nebenbei bemerkt, könnte all dies durchaus noch einen Anwaltshaftungsprozess nach sich ziehen.

Dazu in Konkurrenz treten als staatliches Handeln die lückenhafte Ermittlungsarbeit von Polizei und StA sowie Aßbichlers Jugendkammer, die vor allem die Notwendigkeit einer sachverständigen Begutachtung der Glaubwürdigkeit des Hauptbelastungszeugen sowie der hydrologischen und hydromechanischen Gegebenheiten nicht erkannt hatte. Und zuguterletzt fügt sich die Münchener Rechtsmedizin in die lange Reihe des Versagens ein, deren Zusammenwirken mit dem Hydromechaniker ebenso tendenziös wie lückenhaft war.

Die Verflechtungen der (dem Angeklagten zuzurechnenden!) Schlechtleistung eines RAs mit dem Versagen auf staatlicher Seite sind vielschichtig und stehen in gegenseitiger Abhängigkeit zueinander. Dieses Tohuwabohu zu entflechten, kann nur Aufgabe der Tatsacheninstanz sein. Wenn's schiefgeht: Verfassungsbeschwerde und einstweilige Anordnung durch das BVerfG gegen den Beschluss der Tatsacheninstanz wegen Verletzung von Grundrechten.

Dein Missfallen darüber, dass der BGH nicht auch den Haftbefehl kassiert hatte, kann ich nachvollziehen. Die Kritik daran aber beschreibt ein rechtspolitisches Problem und müsste daher an das Bundesjustizministerium oder an den Bundestag adressiert werden, nicht an die Justiz. Allerdings könnte eine Deinen Vorstellungen entsprechende Reform leicht zu einer Überlastung der Strafsenate beim BGH führen, zu verzögerten Entscheidungen über Revisionen und damit wiederum zu „unnötig“ langer U-Haft. Die Katze beißt sich dann in den Schwanz.
Lento
Beiträge: 42
Registriert: Donnerstag, 17. April 2025, 13:07:20
Kronen:
Sterne:

Re: MORDFALL HANNA W. (23 †), ASCHAU - CHIEMGAU, 2022

Ungelesener Beitrag von Lento »

@Catch22

Ich hatte doch schon gemeint, dass wir hier nicht zusammenkommen.

Wir streiten über die Frage, ob der BGH über seine Aufgabe hinaus Entscheidungen treffen muss, wenn Grundrechtsverletzungen durch die Entscheidung entstehen/sichtbar werden..

Über einen ähnliche Frage spricht der Ex-BGH-Richter Fischer im Form einer kleinen Anekdote in seinem Podcast „Sprechen wir über Mord“ als er den Bauer-Rupp-Fall bespricht.

Da haben BGH-Richter folgenden extrem theoretischen Fall besprochen, der in der Realität nie vorkommen dürfte:
Jemand wurde von den LG wegen Mordes verurteilt, die Leiche wurde nie gefunden. Die Gerichte wollen in der Verhandlung die Revision ablehnen, weil sie keine rechtlichen Fehler im Urteil des LG erkennen.
Da schneit plötzlich in die Verhandlung der Totgeglaubte hinein und sagt, dass er sich im Ausland aufgehalten habe und von dem Fall erst nach seiner Rückkehr erfahren habe und zeigt so der Richterschaft dass er immer noch lebt.
Nun soll die BGH-Richter uneins gewesen sein. Manche bezogen sich auf die rein formelle Aufgabe des BGH und meinten, dass die Revision abgelehnt werden müsse, weil das Urteil fehlerfrei war. Ein anderer Teil meinte, man hätte den Angeklagten freisprechen müssen.
Leider hat Fischer da nicht die Standpunkte beider Seiten erläutert, denn sicher hatten beide Seiten ihre Gründe dieser Ansicht zu sein.

Für mich wäre ein Freispruch notwendig, weil andernfalls grundrechtliche Rechte verletzt worden wären und zwar der effektive Rechtsschutz.

In Wirklichkeit ist die zu stellende Frage keine andere, ob formelles Recht über dem grundrechtlichen Recht steht. Ich gehe davon aus, dass das nicht sein darf.

Aber auch die BGH-Richter waren uneins, wir sind uns uneins. Wer hier richtig liegt, könnte nur das BVerfG entscheiden.Soweit wird es kaum kommen, denn in der Regel wird in einem solchen Fall das LG, an das der Fall zurückverwiesen wurde, relativ zeitnah über die Frage der Verhältnismäßigkeit entscheiden. Der Aufwand einer Verfassungsbeschwerde wäre sicher zu hoch.

Dass der BGH dadurch überlastet würde, sehe ich nicht, denn es ginge nur um die Zeiten, die ohne Beweisaufnahme als sicher gelten. Eine Entscheidung hierüber läge im Minutenbereich, wenn die rechtliche Fehler erkannt wurden, welche das Urteil komplett zu Gunsten des Angeklagten aufheben.
Catch22
Beiträge: 1052
Registriert: Sonntag, 10. Juli 2022, 21:33:56
Kronen:
Sterne:

Re: MORDFALL HANNA W. (23 †), ASCHAU - CHIEMGAU, 2022

Ungelesener Beitrag von Catch22 »

Lento hat geschrieben: Samstag, 09. August 2025, 22:57:31 Ich hatte doch schon gemeint, dass wir hier nicht zusammenkommen. …
Immerhin sind wir uns nun auch darin einig, dass die Zuständigkeit des BGH begrenzt ist. Über die Grenzen des geltenden Prozessrechts hinausgehen muss der BGH nicht. Ob er es in besonders gelagerten Fällen darf, ist eine andere Frage. Hier kommt die Rechtsfortschreibung durch höchstrichterliche Instanzen, das sogenannte Richterrecht ins Spiel.

Aufgrund der Gewaltenteilung darf das Recht durch höchstrichterliche Rechtsprechung nur bei Lücken im Gesetz oder (durch Auslegung) zur Konkretisierung bestehender Gesetze fortgeschrieben werden. Gesetze korrigieren darf die Rechtsprechung nicht; diese Aufgabe kommt allein der Legislative zu, nicht der Judikative.

Fischers fiktives Beispiel zum Fall des Bauern Rupp beschreibt die zugrundeliegende Problematik recht gut (unterscheidet sich im Detail jedoch erheblich von einer Haftprüfung). Im Fall Alexandra R. aus Nürnberg hätte eine solche Fallkonstellation durchaus eintreten können (Thread im HET siehe hier).

In dem skizzierten Fallbeispiel müsste die Verurteilung erst in Rechtskraft erwachsen und dann vom unschuldig Verurteilten die Wiederaufnahme des Verfahrens (§ 359 StPO) betrieben werden – ein aufwendiger und vor allem langwieriger Verfahrensweg. Unnötigerweise wäre ein erwiesenermaßen Unschuldiger sehenden Auges dem Status eines rechtskräftig Verurteilten ausgesetzt. Nach der Identifizierung des Totgeglaubten läge sofort ein zweifelsfreies Ergebnis vor, das nach geltender Rechtslage erst in einer neuen Tatsacheninstanz festgestellt werden muss. Ein Federstrich contra ein aufwendiges Verfahren. Krasser könnten die Gegensätze nicht sein. Sollten Laien diese Logik für finalen Wahnsinn halten, könnte ich dem nur zustimmen. Streng genommen aber liegt in einem solchen Fall keine Regelungslücke vor, weil die StPO auf ein Wiederaufnahmeverfahren verweist. Darüber, ob nun unter der Maxime eines effektiven Rechtsschutzes und des Persönlichkeitsrechts nicht vielleicht doch eine Lücke im Gesetz vorliegen könnte, kann trefflich gestritten werden. Die Gewaltenteilung als Kern unserer Verfassung darf jedoch nicht angetastet werden.

Bei einer Haftprüfung wie im Fall Hanna hingegen kann nicht davon ausgegangen werden, dass sich die für eine Prüfung der Verhältnismäßigkeit der U-Haft relevanten Tatsachen mit vergleichbarer Blitzgeschwindigkeit entflechten und kausal zurechenbar feststellen lassen. Die Komplexität hatte ich in meinem letzten Beitrag aufgezeigt. Die Prüfung zu beschränken auf „Zeiten, die ohne Beweisaufnahme als sicher gelten“, um eine Entscheidung „im Minutenbereich“ treffen zu können, und alle anderen Faktoren auszuklammern, halte ich angesichts der komplexen Vielschichtigkeit und der gegenseitigen Abhängigkeiten der Faktoren für grob rechtsfehlerhaft.

Eine Gesetzeslücke kann ich nicht darin erkennen, dass die Haftprüfung ausdrücklich der Tatsacheninstanz zugewiesenen ist. Diese Aufgabe fällt nicht dem BGH zu und eine unverhältnismäßig lange U-Haft kann auch nicht mit der Revision zum BGH gerügt werden. Die Fallkonstellationen in Fischers Beispiel und bei der Haftfrage im Fall Hanna unterscheiden sich erheblich und sind nicht miteinander vergleichbar. Damit dem BGH hinsichtlich einer Haftprüfung im Revisionsverfahren eine Erweiterung seiner bisherigen Kompetenzen ausdrücklich gestattet und vor allem auch geboten wäre, bedürfte es einer Reform des Strafprozessrechts.

Lento hat geschrieben: Samstag, 09. August 2025, 22:57:31 … Wir streiten über die Frage, ob der BGH über seine Aufgabe hinaus Entscheidungen treffen muss, wenn Grundrechtsverletzungen durch die Entscheidung entstehen/sichtbar werden. …
Zu den Grundrechten eine ganz grundsätzliche Bemerkung:

Die Grundrechte sind immer und überall zu wahren, wo staatliches Handeln in Erscheinung tritt. In der Justiz sind davon alle Gerichte im Rahmen ihrer jeweiligen Zuständigkeiten und Aufgaben betroffen, nicht nur der BGH. Dies gilt auch für die Tatsacheninstanz bei der Haftprüfung. Nur wenn hier Fehler unterlaufen, kann es erforderlich werden, das BVerfG anzurufen.

Fragen, für die ein Gericht nicht zuständig ist, hat das Gericht nicht zu prüfen – weder nach einfachem Recht noch nach verfassungsrechtlichen Maßstäben. Ein Familienrichter etwa darf nicht über die Aufhebung eines verwaltungsrechtlichen Verwaltungsakts entscheiden; dies fällt in die Zuständigkeit der Verwaltungsgerichte. Der Schuster urteilt nicht über die Arbeit des Bäckers. Ebenso zählt die Haftprüfung nicht zu den Aufgaben des BGH.

Lento hat geschrieben: Samstag, 09. August 2025, 22:57:31 … Der Aufwand einer Verfassungsbeschwerde wäre sicher zu hoch. …
Eine Verfassungsbeschwerde beim BVerfG zu erheben, ist kein Hexenwerk. Nicht einmal anwaltliche Vertretung ist vorgeschrieben. Jedermann darf sich jederzeit an das BVerfG wenden, wenn er seine Grundrechte verletzt sieht und der Rechtsweg erschöpft ist. Das Verfahren ist gerichtskostenfrei. (Falls allerdings grober Bullshit vorgetragen wird, kann das BVerfG eine sogenannte Missbrauchsgebühr verhängen. Dies geschieht gegenüber Herrn und Frau Jedermann nur selten, bei anwaltlich hemdsärmeliger Vertretung solcher Jedermänner häufiger.) Um das Risiko, dass die Verfassungsbeschwerde vom BVerfG gar nicht zur Entscheidung angenommen wird, zu minimieren und um die Erfolgsaussichten zu steigern, ist dringend zu raten, sich von einem im Verfassungsrecht erfahrenen RA vertreten zu lassen.

Dies ist der vorgegebene Weg, um eine Grundrechtsverletzung anzugreifen, die der Tatsacheninstanz im Rahmen der Haftprüfung unterlaufen sein könnte. Eine etwaige Verletzung von Grundrechten liegt in der Entscheidung der Tatsacheninstanz und nicht in der Entscheidung des BGH über die Aufhebung eines Urteils, das über die U-Haft gar nicht entschieden hatte. (Die Entscheidung über die Aufrechterhaltung der U-Haft musste im Zuge der Verurteilung in einem separaten Beschluss ergangen sein.)


Mittlerweile sind wir vom eigentlichen Thema, dem Fall Hanna, ganz schön weit abgedriftet. Ich hoffe, dass sich die „nur“ am Fall interessierten Mitleser dadurch nicht langweilen.
Lento
Beiträge: 42
Registriert: Donnerstag, 17. April 2025, 13:07:20
Kronen:
Sterne:

Re: MORDFALL HANNA W. (23 †), ASCHAU - CHIEMGAU, 2022

Ungelesener Beitrag von Lento »

@Catch22

Dann sind wir doch etwas weiter gekommen. Wenn also eine Regelungslücke vorliegt, darf zumindest der BGH diese Lücke füllen. Wäre es nicht so, dass er es – wenn er diese sieht – nicht sogar diese Regelungslücke zu füllen hat oder – als zweite Möglichkeit – einen entsprechende Anfrage beim BVerfG stellen muss? Denn eine Lücke, welche erhebliche Auswirkungen auf die Betroffenen hat, darf nicht bestehen bleiben.
Ja, man kann sich natürlich trefflich darüber streiten, daher sagte ich, eine endgültige Entscheidung müsste das BVerfG treffen.

Dass die beiden Fälle so unterschiedlich sein sollen sehe ich gerade nicht. Du hast bisher immer nur Teile der Zeit als unscharf bezeichnet, die ich nie im Minimum der verlorenen Zeit enthalten waren. Wir könnten hier schrittweise vorgehen. Welche Zeiten sollen so vielschichtig sein, dass sie nur eine weitere Beweisaufnahme notwendig ist.

1. Zeit von dem Erhalt der Urteilsbegründung bis zur Stattgabe der Revision
2. Zeit Zeit von der Urteilsverkündung bis zum Erhalt der Urteilsbegründung
3. Zeit von der Ablehnung der 1. Jugendkammer bis zur Verkündung des Urteilsbegründung.
4. Zeit von dem Befangenheitsantrag bis zur Ablehnung durch die 1. Jugendkammer
5. Zeit vom E-Mail-Verkehr bis zur Stellung des Befangenheitsantrages.

Das sind alles für mich die Zeiten die unantastbar der Staat durch sein handeln verursacht hat.

Das weitere kann man etwas unterschiedlich sehen und auf das bist Du bisher auch nur eingegangen. So siehst Du ein Mitverschulden auch der Pflichtverteidiger.

Das sehe ich grundsätzlich anders, da der Staat sowohl von den Ermittlern, StA und auch Gerichten auch verlangt, dass sie sowohl nach be- als auch entlastende Indizien suchen müssen. Für die Einhaltung dieser Maxime ist der Staat selber für verantwortlich, er darf diese Verantwortung nicht dem Angeklagten (hier in Form seiner Verteidiger) auferlegen. Das würde nichts anderes als die Umkehrung der Beweislast bedeuten, ein Angeklagte müsse seinen Unschuld beweisen.

Etwas anderes wäre, wenn Verteidiger ganz bewusst die Verfahrensverschleppung betrieben hätten. Aber auch in diesem Fall hätte das Gericht die Aufgabe diesem entgegenzuwirken, in dem es z.B. Termine etc. setzt. Im vorliegenden Fall ist so etwas nicht im Ansatz zu erkennen, aber ich gebe Dir Recht, für diesen Anteil wären u.U. Beweisaufnahmen möglicherweise Beweisaufnahmen nötig, wobei das aus den Verhandlungsprotokollen hervorgehen muss.

Außerdem vergisst Du einen weiteren wesentlichen Grund. Hier in diesem Fall wird höchstwahrscheinlich das LG die beiden Pflichtverteidiger vorgeschlagen haben. Die Tauglichkeit der Verteidiger kann erst mal nicht im Geringsten der Angeklagte beurteilen, er muss darauf vertrauen können, dass das Gericht schon die richtigen ausgesucht hat, die dieser Aufgabe auch gewachsen sind. Auch diese Auswahl liegt daher in der Verantwortung des Staates. Ein Angeklagter kann dies erst mal nicht beurteilen. Erst im Laufe des ganzen Verfahrens wird die Skepsis des angeklagten an der Verteidigung wachsen, irgendwann ist das Fass dann zum Überlaufen gebracht worden, so dass etwas finanzstarke zu einem Wahlverteidiger greifen. In Wirklichkeit hat auch hier der Staat versagt.
Dass die aktuelle Gesetzeslage dazu führt, dass die Gefahr groß ist, dass Gerichte eher Anwälte aussucht, die im Laufe der Verhandlung ihnen die geringsten Schwierigkeiten machen, liegt auf der Hand. Diese ungünstige Konstellation darf ebenfalls nicht dem Angeklagte zum Nachteil werden, denn auch das liegt einzig und allein in der Verantwortung des Staates.

Ob man den Angeklagten einen Vorwurf machen darf, dass er einen Wahlverteidiger zu spät ins Boot geholt,t hat, sehe ich nicht, da der Angeklagte diesen in der Regel aus der eigentlichen Tasche zu zahlen hat und nicht dazu in irgendeiner Form gesetztlich verpflichtet ist. Es ist eine reine Option. Die Verantwortun, wieviel Verteidiger notwendig sind trägt ebenfalls nur der Staat.

Daher kann ich Deine Gedanken zu den Zeiten, die im Verantwortungsbereich der Verteidiger liegen sollen, nicht im Geringsten nachvollziehen. Allenfalls die Zeiten, durch zeitliche Versäumnisse einstanden wären, z.B. zu Gutachten zu spät Stellung zu nehmen, können der Verteidigung und damit dem Angeklagten zugeordnet werden, wo bei die durch das Gericht bestimmte Pflichtverteidiger ebenfalls ausgeschlossen sein müssten. Auch noch bewusste zeitliche Verschleppung des Verfahrens wäre ein Argument, bei vom Gericht bestimmte Pflichtverteidiger nun dann zum Tragen kommen darf, wenn man dem Angeklagten selbst das (mit-)verursacht hat.


Nach längerem Beschäftigen mit dieser Problematik bin ich jedoch mittlerweile zu der Ansicht gekommen, dass aus rein psychologischen Gründen es besser ist, wenn man da die Finger von lässt. Der BGH kann nur die (die von oben und vielleicht noch wenige andere) feststehenden Zeiten berücksichtigen. Ein negativer Beschluss bewirkt bei dem entscheidenden Gericht (LG) die psychologische Gefahr, dass es die Ansprüche im Vergleich ohne BGH-Beschluss höher schraubt. Also wenn man den Faktor Mensch berücksichtigt, sollte man die Finger davon lassen.

Insofern könnte man diese Diskussion nun auch beenden. Auf einen gemeinsamen Nenner bzgl. Regelungslücke ja oder nein werden wir wahrscheinlich nicht mehr kommen.
Catch22
Beiträge: 1052
Registriert: Sonntag, 10. Juli 2022, 21:33:56
Kronen:
Sterne:

Re: MORDFALL HANNA W. (23 †), ASCHAU - CHIEMGAU, 2022

Ungelesener Beitrag von Catch22 »

OVB: Sebastian im schriftlichen Interview

Mit frischem Personal aus der Landeshauptstadt geht das Oberbayerische Volksblatt (OVB) im Fall Hanna ans Werk. Eine Journalistin aus München (Münchner Merkur und tz, ebenfalls Ippen-Mediengruppe) stellte ein paar unverfängliche Fragen, die Sebastian schriftlich beantwortete.

Wurden die hauseigenen Brandstifter des OVB von der Berichterstattung über den Fall Hanna abgezogen? Sollte dem Verleger nach den jüngsten Enthüllungen in der „Zeit“ (siehe hier) und der Präsentation eines unschuldigen Wandersmanns in der „Bild“ (siehe hier) der durch seinen Blätterwald vergiftete Boden im Chiemgau zu heiß geworden sein? Keine Bühne mehr für Holderle?


Die OVB-Medien texten auf Rosenheim24:

Spoiler – hier klicken!
… Sebastian T. nach Haftentlassung: „Hoffe, es klärt sich alles auf“

Bild
Sebastian T. kurz nach seiner Haftentlassung, begleitet von seiner Anwältin Regina Rick. © Privat



… 52 Tage ist es her, dass sich das Leben für Sebastian T. gedreht hat. … Am 20. Juni wurde der 23-Jährige aus der Justizvollzugsanstalt … entlassen. …

Doch seine Familie und seine Verteidigerin glauben nicht an seine Schuld, sondern an einen tragischen Unfall. Die Münchner Anwältin Regina Rick beauftragte weitere Gutachter – schließlich hob der Bundesgerichtshof das Urteil … auf. Im September muss der Fall neu verhandelt werden.

Wieder daheim in Aschau im Chiemgau

Seit seiner Entlassung ist der 23-Jährige, der vor seiner Festnahme eine Ausbildung zum Metallbauer gemacht hatte, wieder daheim in Aschau – das ist auch das Zuhause von Hanna, die hier … gewaltsam den Tod fand. Die Familien wohnen nicht weit voneinander entfernt, kannten sich vor Hannas Tod aber nur vom Sehen. Sebastian T., der vor Gericht keine Aussagen gemacht hatte, lebt zurückgezogen. Die Interviewfragen wurden ihm schriftlich gestellt.

Wie geht es Ihnen und Ihrer Familie?

Sebastian T.: Wir erholen uns allmählich.

Wie haben Sie die ersten Tage in Freiheit verbracht?

Sebastian T.: Wir haben gemeinsam Weißwürste gegessen und am Abend sind wir zum Friedhof gefahren, da während der Haft meine Großmutter und meine Urgroßeltern verstorben sind. Kurz vor der U-Haft ist mein Großvater verstorben.

Was haben Sie seither gemacht?

Sebastian T.: Ich habe Tischtennis gespielt, Berge bestiegen, Karten gespielt. Ich bin Rad gefahren, gelaufen – und habe viel Eis und Spiegeleier gegessen.

Wie fühlt es sich an, durch Aschau zu gehen? Werden Sie angesprochen?

Sebastian T.: Ich war in Aschau noch nicht so wirklich unterwegs. Beim Laufen bin ich nur einmal komisch angeschaut worden.

Sind Sie seit Ihrer Freilassung Hannas Familie begegnet, die ja auch in Aschau lebt?

Sebastian T.: Nein.

Vor Gericht haben auch Freunde gegen Sie ausgesagt. Haben Sie die seither getroffen?

Sebastian T.: Ich habe im Moment keinen Kontakt zu jemandem, außer mit meiner Familie.

Was haben Sie in der Zeit, die Sie im Gefängnis verbringen mussten, am meisten vermisst?

Sebastian T.: Meine Familie, die Berge – und mich einfach wieder alleine bewegen zu können. Ohne Überwachung!

Was hat Ihnen im Knast Mut gemacht?

Sebastian T.: Meine Familie und meine Anwältin.

Haben Sie daran geglaubt, dass Sie so schnell raus dürfen?

Sebastian T.: Ich dachte, die Wahrheit würde schneller rauskommen. Unschuldig im Gefängnis ist jede Minute zu lang.

Haben Sie Angst vor einem neuen Prozess?

Sebastian T.: Ja, aber ich hoffe, es klärt sich alles auf. Für meine Familie und für die Familie von der Hanna.

Was wäre, wenn Sie erneut wegen Mordes verurteilt werden?

Sebastian T.: Dann würde ich an nichts mehr glauben.

Rosenheim24.de am 11.08.2025
https://www.rosenheim24.de/rosenheim/ch ... 75920.html

Leserkommentare purzeln von den Bäumen, als würden manche Chiemgauer noch auf ihnen wohnen, und offenbaren, wie defizitär das OVB seine Leser versorgt:
https://www.rosenheim24.de/rosenheim/ch ... d-Comments


Ohne Paywall und mit ein paar mehr freundlichen Worten und Fotos angereichert, präsentiert der Münchner Merkur dasselbe Interview:
https://www.merkur.de/bayern/sebastian- ... 76113.html
Catch22
Beiträge: 1052
Registriert: Sonntag, 10. Juli 2022, 21:33:56
Kronen:
Sterne:

Re: MORDFALL HANNA W. (23 †), ASCHAU - CHIEMGAU, 2022

Ungelesener Beitrag von Catch22 »

Lento hat geschrieben: Montag, 11. August 2025, 08:20:19 Dann sind wir doch etwas weiter gekommen. Wenn also eine Regelungslücke vorliegt, darf zumindest der BGH diese Lücke füllen. …
Die Grenzen durch die Gewaltenteilung hatte ich aufgezeigt.

Ebenso hatte ich dargelegt, dass der BGH für eine Haftprüfung gar nicht zuständig ist. Das angegriffene Urteil enthält keine Entscheidung über die U-Haft. Damit konnte der BGH gar keine Grundrechte verletzt haben, indem er nicht zugleich über eine Haftentlassung entschieden hatte. Die Anrufung des BVerfG wäre gescheitert.

(Hätte hingegen die für die Haftprüfung zuständige Tatsacheninstanz Grundrechte verletzt, wäre eine Verfassungsbeschwerde aller Voraussicht nach erfolgreich gewesen.)

Lento hat geschrieben: Montag, 11. August 2025, 08:20:19 … Das sind alles für mich die Zeiten die unantastbar der Staat durch sein handeln verursacht hat. …
Die von Dir aufgelisteten Zeiträume können für sich allein kein Kriterium sein. Um die kausale Zurechenbarkeit geht es. Und die ist angesichts des Tohuwabohus kompliziert: Unter welchen Bedingungen hätte der Hund den Hasen gefangen, wenn der Hund nicht geschissen hätte?

Lento hat geschrieben: Montag, 11. August 2025, 08:20:19 … So siehst Du ein Mitverschulden auch der Pflichtverteidiger. …
Auf ein etwaiges Verschulden (egal auf wessen Seite) kommt es bei der Prüfung der Verhältnismäßigkeit der Haftfortdauer gar nicht an. Deshalb hatte ich den Begriff „Mitverschulden“ ganz bewusst nicht gewählt.

Um die kausale Zurechenbarkeit der Verzögerungen aufzuklären, ist zu unterscheiden, in wessen Sphäre die jeweiligen Ursachen zu finden sind. Die Verteidiger (einschließlich der Pflichtverteidiger) sind der Sphäre des Angeklagten zuzuordnen – und nicht der des Staates. Daran ändert auch eine noch so geschickte Argumentation nichts.

Die dadurch entstehende Verflechtung, Komplexität und Vielschichtigkeit ist unübersehbar. Deswegen: ein Job für die Tatsacheninstanz.
Catch22
Beiträge: 1052
Registriert: Sonntag, 10. Juli 2022, 21:33:56
Kronen:
Sterne:

Re: MORDFALL HANNA W. (23 †), ASCHAU - CHIEMGAU, 2022

Ungelesener Beitrag von Catch22 »

LG Traunstein: Akkreditierung für Journalisten

Mit Verfügung heutigen Datums ordnet das LG Traunstein ein Akkreditierungsverfahren für Medienvertreter an.

Für Interessierte, die sich den Download der PDFs sparen möchten, hier die trockenen Texte der Verfügung und der Pressemitteilung:

Spoiler – hier klicken!

Verfügung:
Verfügung vom 11.08.2025

Es ist beabsichtigt, akkreditierten Journalisten in den ab 29.09.2025 bestimmten Hauptverhandlungsterminen bevorzugten Zutritt auf reservierte Sitzplätze im Zuhörerbereich des Sitzungssaals zu gewähren. Zur Vorbereitung der Hauptverhandlungstermine wird gemäß § 176 GVG angeordnet:

1. Es wird die Durchführung eines Akkreditierungsverfahrens angeordnet.

2. Zur Akkreditierung berechtigt sind unabhängige freie Journalisten, Kameraleute, Fotografen und Medienunternehmen. Medienunternehmen akkreditieren sich durch einen für das Unternehmen tätigen Journalisten. Die Akkreditierung ist innerhalb des Medienunternehmens frei übertragbar. Dies gilt auch dann, wenn der Journalist, der sich stellvertretend für das Medium akkreditiert hat, aus dem Medienunternehmen ausscheidet. Unter denselben Bedingungen können sich Medienunternehmen separat für eine Zugangsberechtigung eines Kamerateams/Fotografen akkreditieren.

3. Alle an einer Teilnahme interessierten Medienunternehmen und freien Journalisten werden gebeten, sich unter Übermittlung eines gültigen Presseausweises bzw. Ausweises einer Rundfunk- oder Fernsehanstalt im Sinne des Pressegesetzes und/oder eines Referenzschreibens (Beschäftigungs- oder Auftragsbestätigung) eines solchen Unternehmens oder eines sonstigen Nachweises ihrer journalistischen Tätigkeit bei der Pressestelle des Landgerichts Traunstein unter Angabe Ihrer Tätigkeit als Redakteure, Fotografen und Kamerateams unter akkreditierung@lg-ts.bayern.de für „402 Js 40276/22(jug)“ zu akkreditieren.

Akkreditierte Medienunternehmen erhalten die Zugangsberechtigung für jeweils eine Journalistin bzw. einen Journalisten. Auf anderen Wegen eingehende Akkreditierungsgesuche können nicht berücksichtigt werden und werden auch nicht weitergeleitet. Die Akkreditierungsfrist beginnt am Montag, den 25.08.2025 um 12.00 Uhr (MESZ) und endet am Donnerstag, den 28.08.2025 um 12.00 Uhr (MESZ).

Akkreditierungsgesuche, die vor Beginn oder nach Ablauf der Frist eingehen, können nicht berücksichtigt werden.

Es wird darauf hingewiesen, dass eine Nachakkreditierung von Journalisten auch bei längerer Dauer des Verfahrens nicht möglich ist.


Gründe:

1. Die Durchführung eines vorgeschalteten Akkreditierungsverfahrens ist insbesondere für die Gewährleistung eines geordneten Verfahrens erforderlich.

2. Soweit der Zugang von Medienvertretern durch die Sicherheitsverfügung begrenzt wird, liegen den Anordnungen folgende Ermessenserwägungen zugrunde (vgl. auch BVerfG NJW 2020, 38):

(1) Die Reservierung von Plätzen für Medienvertreter folgt aus Nr. 125 Abs. 3 RiStBV. Danach soll das Gericht für die Presseberichterstatter im Voraus geeignete Plätze in ausreichender Zahl bereitstellen. Bereits im Ermittlungs- und im Zwischenverfahren sowie im bereits durchgeführten Hauptsacheverfahren war eine erhöhte Aufmerksamkeit der Presse festzustellen. So wurde über die Anklageerhebung durch die Staatsanwaltschaft Traunstein und den Gang des Hauptverfahrens in überregionalen Medien, teilweise sehr ausführlich, berichtet. Die Sitzplatzreservierung ist in diesen Fällen zulässig und erforderlich (vgl. zum Ganzen MüKoStPO/Kulhanek, 2. Aufl. 2025, GVG § 176 Rn. 29).

(2) Die reservierten Plätze stehen grds. nur akkreditierten Medienvertretern zur Verfügung. Die Beschränkung der Sitzplatzreservierung auf akkreditierte Medienvertreter ist von der sitzungspolizeilichen Befugnis des Vorsitzenden umfasst (BVerfG NJW-RR 2007, 1053, MüKoStPO/Kulhanek, 2. Aufl. 2025, GVG § 176 Rn. 30). Sie ist erforderlich, um allen Medienvertretern die gleichen Chancen auf eine garantierte Zugangsmöglichkeit zu den reservierten Plätzen zu geben. Mit der Durchführung des Akkreditierungsverfahrens wird geprüft, ob ein eingehendes Akkreditierungsgesuch von einem Medienschaffenden gestellt wurde. Der Prüfung der journalistischen Betätigung von Personen, die sich auf die reservierten Plätze bewerben, kann aus organisatorischen Gründen nicht erst am Sitzungstag erfolgen. Zur Prüfung eines Gesuchs können im Einzelfall Ermittlungen nötig sein. Diese – zur Wahrung des Gleichheitsgrundsatzes notwendige – Überprüfung kann angesichts des erwarteten Medienandrangs nicht erst am Sitzungstag erfolgen. Nur an den Tagen, an denen die reservierten Plätze nicht vollständig von akkreditierten Journalisten besetzt werden, können auch Medienvertreter, deren journalistische Betätigung überprüfbar ist, auf die reservierten Plätze vorgelassen werden. Um zu garantieren, dass sämtliche Interessenten die gleichen Zugangschancen haben, ist eine Nachakkreditierung nicht möglich.

(3) Zur Gewährleistung der Medienvielfalt erhalten freie Journalisten, die ausschließlich für ein Medium tätig sind, die Möglichkeit der Akkreditierung nur über das Medienunternehmen selbst, für das sie tätig sind.

Will
Vorsitzende Richterin am Landgericht

Verfügung LG Traunstein vom 11.08.2025 (PDF)
https://www.justiz.bayern.de/media/imag ... rdnung.pdf

Pressemitteilung:
Strafverfahren gegen Sebastian T. wegen Mordes (Eiskeller-Fall)

In dem oben genannten Verfahren hat die Vorsitzende der 1. Jugendkammer am 11.08.2025 die anliegende Akkreditierungsverfügung erlassen. Danach sind für akkreditierte Medienvertreter/Medienunternehmen Sitzplätze reserviert. Die genaue Anzahl der zur Verfügung stehenden Sitzplätze wird rechtzeitig mitgeteilt werden.

Es wird auf folgende Bedingungen des Akkreditierungsverfahrens hingewiesen:

1. Zur Akkreditierung berechtigt sind unabhängige freie Journalisten, Kameraleute, Fotografen und Medienunternehmen. Medienunternehmen akkreditieren sich durch einen für das Unternehmen tätigen Journalisten. Die Akkreditierung ist innerhalb des Medienunternehmens frei übertragbar. Dies gilt auch dann, wenn der Journalist, der sich stellvertretend für das Medium akkreditiert hat, aus dem Medienunternehmen ausscheidet. Unter denselben Bedingungen können sich Medienunternehmen separat für eine Zugangsberechtigung eines Kamerateams/Fotografen akkreditieren.

2. Alle an einer Teilnahme interessierten Medienunternehmen und freien Journalisten werden gebeten, sich unter Übermittlung eines gültigen Presseausweises bzw. Ausweises einer Rundfunk- oder Fernsehanstalt im Sinne des Pressegesetzes und/oder eines Referenzschreibens (Beschäftigungs- oder Auftragsbestätigung) eines solchen Unternehmens oder eines sonstigen Nachweises ihrer journalistischen Tätigkeit bei der Pressestelle des Landgerichts Traunstein unter Angabe Ihrer Tätigkeit als Redakteure, Fotografen und Kamerateams unter akkreditierung@lg-ts.bayern.de für „402 Js 40276/22 (jug)“ zu akkreditieren.

Akkreditierte Medienunternehmen erhalten die Zugangsberechtigung für jeweils eine Journalistin bzw. einen Journalisten.

Auf anderen Wegen eingehende Akkreditierungsgesuche können nicht berücksichtigt werden und werden auch nicht weitergeleitet. Die Akkreditierungsfrist beginnt am Montag, den 25.08.2025 um 12.00 Uhr (MESZ) und endet am Donnerstag, den 28.08.2025 um 12.00 Uhr (MESZ).

Akkreditierungsgesuche, die vor Beginn oder nach Ablauf der Frist eingehen, können nicht berücksichtigt werden. Es wird darauf hingewiesen, dass eine Nachakkreditierung von Journalisten auch bei längerer Dauer des Verfahrens nicht möglich ist.

gez. Sattelberger
Vorsitzende Richterin am Landgericht
Pressesprecherin

Pressemitteilung LG Traunstein vom 11.08.2025 (PDF)
https://www.justiz.bayern.de/media/imag ... keller.pdf

Anscheinend rechnet die Justiz mit einem überbordenden Medienandrang aus allen Winkeln und Ritzen der Republik. Wieviele Plätze dann noch fürs gemeine Volk übrig bleiben, teilt das Gericht nicht mit.


Merkur: 26 Termine

Ein zweites Mal meldet sich heute der Münchner Merkur mit knappen Infos zu Wort:

► 26 Sitzungstage
► Sitzungsort: Laufen
► Beginn: 29.09.2025
► Ende: 19.12.2025
► weiterhin keine Aussage Sebastians zu erwarten

https://www.merkur.de/bayern/der-prozes ... 77539.html


PNP: Keine Aussage angesichts dieser StA

Auch die Passauer Neue Presse (PNP) berichtet über das Interview mit Sebastian, das Ziel eines Freispruchs wegen erwiesener Unschuld sowie die weiterhin beabsichtigte Aussageverweigerung Sebastians. RAin Rick betont: „Einer Befragung durch diese Staatsanwaltschaft setze ich ihn nicht aus.“ Ohne Paywall:

https://www.pnp.de/lokales/landkreis-tr ... n-19269371

Anmerkung: Das klingt fast, als würde (O)StA Fiedler an diesem Verfahren kleben wie Pech am Schuh! Never change a winning team? :lol:
Lento
Beiträge: 42
Registriert: Donnerstag, 17. April 2025, 13:07:20
Kronen:
Sterne:

Re: MORDFALL HANNA W. (23 †), ASCHAU - CHIEMGAU, 2022

Ungelesener Beitrag von Lento »

Catch22 hat geschrieben: Montag, 11. August 2025, 13:24:12Um die kausale Zurechenbarkeit der Verzögerungen aufzuklären, ist zu unterscheiden, in wessen Sphäre die jeweiligen Ursachen zu finden sind. Die Verteidiger (einschließlich der Pflichtverteidiger) sind der Sphäre des Angeklagten zuzuordnen – und nicht der des Staates. Daran ändert auch eine noch so geschickte Argumentation nichts.
Es ist nicht wirklich eine Argumentation sondern eine doch durchaus objektive Schilderung der Situation eines Angeklagten, der in diese Lage gerät. Wenn man das berücksichtigt, sind diese schematischen Dinge, welche Du dagegen hältst unsachlich und daher willkürlich. Man darf nicht vergessen, das sucht sich ein Angeklagter nie freiwillig aus und verantworten hat er es indirekt nur, wenn er die ihm vorgeworfenen Tat auch begangen hat. Das soll aber bei dem ganzen Prozedere erst erkannt werden. Wenn ich das mittlerweile so sehe, versucht der Staat sich vor der Verantwortung zu drücken, wo es nur möglich ist. Alles wirkt auch mich sehr scheinheilig. Es ist nicht nur die erbärmliche Entschädigung, nein das ganze System wirkt auf mich so, als wäre die Unschuldsvermutung nur eine reine Floskel. So erscheint es mir jedenfalls, wenn nun die Ermittler rein gewaschen werden, wenn die Gerichte dem Angeklagten unfähige Verteidiger zugewiesen hat. Das ist einfach nur noch irre.

Hier wendet ich mich ab mit Grausen ...
Der_Clown

Re: MORDFALL HANNA W. (23 †), ASCHAU - CHIEMGAU, 2022

Ungelesener Beitrag von Der_Clown »

Catch22 hat geschrieben: Montag, 11. August 2025, 16:45:34 Merkur: 26 Termine

Ein zweites Mal meldet sich heute der Münchner Merkur mit knappen Infos zu Wort:

► 26 Sitzungstage
► Sitzungsort: Laufen
► Beginn: 29.09.2025
► Ende: 19.12.2026
► weiterhin keine Aussage Sebastians zu erwarten

https://www.merkur.de/bayern/der-prozes ... 77539.html
Wenn die vorläufige Terminierung bis Ende 2026 angesetzt ist, erwartet uns ein echter Mammutprozess. :D

Spaß beiseite: Danke an Catch22 für das Bereitstellen der neuesten Presseberichte.
Catch22
Beiträge: 1052
Registriert: Sonntag, 10. Juli 2022, 21:33:56
Kronen:
Sterne:

Re: MORDFALL HANNA W. (23 †), ASCHAU - CHIEMGAU, 2022

Ungelesener Beitrag von Catch22 »

Lento hat geschrieben: Montag, 11. August 2025, 20:56:11 Es ist … eine doch durchaus objektive Schilderung der Situation eines Angeklagten, der in diese Lage gerät. …
Ja! Zweifellos sah sich der Angeklagte hilflos einer für ihn vollkommen fremden Situation ausgesetzt. Spätestens seit seiner Festnahme auf der Autobahn. Tatvorwurf: Mord. Ein Fall notwendiger Verteidigung. Ein Verteidiger musste her. Wenn der Beschuldigte keinen RA benennen kann, wählt das Gericht einen aus der hauseigenen Castingliste. Den vom Gericht beigeordneten Pflichtverteidiger (egal ob vom Beschuldigten selbst oder vom Gericht ausgewählt) wird der Beschuldigte bzw. der spätere Angeklagte nicht mehr so einfach los.

Oft genug schlägt ein RA mit den Flügeln und gackert. Ob er dabei überhaupt ein Ei legt und ob es sich dabei eher um ein Wachtel- oder ein Straußenei handelt, kann der Mandant in den meisten Fällen erst ganz am Schluss beurteilen, falls überhaupt. Aus einem Beitrag vom 17.12.2023, in dem ich mich noch in vornehmer Zurückhaltung übte:

Spoiler – hier klicken!
Catch22 hat geschrieben: Sonntag, 17. Dezember 2023, 07:44:26

Rechtsanwälte dagegen sind zwar ebenfalls Organe der Rechtspflege, bleiben jedoch als nicht staatlich Bedienstete von derlei ministeriellen Karussellfahrten verschont. Es herrscht Wettbewerb untereinander. Meist kann die Mandantschaft Qualifikation und Können des Anwalts fachlich nicht einschätzen. Deshalb neigen Rechtsanwälte dazu, sich in „Anwaltsprosa“ zu ergießen, die allein dazu dient, den Mandanten zu beeindrucken, weniger ein Gericht. Es setzt sich [gegenüber dem Mandanten] durch, wer am lautesten gackert, nicht wer die größten Eier legt (frei nach Henry Ford).

In Strafverfahren tritt hinzu, dass Rechtsanwälte vom Gericht als Pflichtverteidiger bestellt werden können. Gerichte greifen dabei meist auf einen bestimmten Kreis von (aus richterlicher Sicht bewährten) Rechtsanwälten zurück. Ob eine solche Verpflichtung jedem mit Mandaten gut versorgten Strafverteidiger gelegen kommt, mag dahinstehen. Die Einnahmequelle ist sicher, nicht gerade üppig das Honorar. In prominenten Verfahren lockt die mediale Öffentlichkeit – in deren Genuss ein Wahlverteidiger aber ebenso gelangt. Nur wenn ein Rechtsanwalt, etwa aus pekuniären Gründen, auf die Zuteilung von Pflichtmandaten angewiesen wäre, ließe sich vermuten, er könnte bemüht sein, bei Gericht ein besonders freundliches Klima zu pflegen.

Schon manch ein Rechtsanwalt hat seinen eigenen Mandanten ans Messer geliefert – ohne dass der Mandant oder die Öffentlichkeit es je mitbekommen hätten. Eine Kungelei mit der Staatsanwaltschaft oder gar dem Gericht jedoch, wie sie etwa von der ehemaligen Anwaltssekretärin Gudrun R. aus M. geargwöhnt wird, steht dabei gewiss nicht im Raum, auch wenn „man“ sich zeitweilen auf dem Golfplatz treffen mag. Fachliche Expertise und ökonomische Überlegungen bestimmen das Engagement. Man muss nicht auftreten wie Haudegen Johann Schwenn, auch ein stiller Arbeiter wie Gerhard Strate kommt an sein Ziel.


Im Verfahren gegen Sebastian bedeutet die Mandatierung einer Wahlverteidigerin einen Gewinn im Sinne unseres Rechtsstaats. Dabei kommt es nicht darauf an, wie prominent sie ist oder wie laut sie gackert. Zu den beiden Pflichtverteidigern mag sich jeder seine eigene Meinung bilden.

Eine gewisse, zarte Verbundenheit jedoch schimmert im Verhältnis von Staatsanwaltschaft und Gericht durch. Die von der Staatsanwaltschaft erhobene Anklage wurde vom Gericht quasi ins Hauptverfahren durchgewunken. Wollte man trotz dünner Beweislage und lückenhafter Ermittlungen dem von der Staatsanwaltschaft bejahten hinreichenden Tatverdacht nicht entgegentreten? Vertraute die Staatsanwaltschaft darauf? Nun haben wir die Bescherung.

Ein Beitrag vom 22.02.2024 über ein durchaus vergleichbares anwaltliches Gebaren des Nebenklagevertreters:

viewtopic.php?p=245468#p245468

Lento hat geschrieben: Montag, 11. August 2025, 20:56:11 … das sucht sich ein Angeklagter nie freiwillig aus …
Dieses allgemeine Lebensrisiko realisiert sich tagtäglich. Wieviele Verkehrsteilnehmer werden nach Verkehrsunfällen anwaltlich schlecht beraten und vertreten? Wieviele Medizinschadensopfer? Und bei Bauschäden? Schimmel in der Bude? Die Liste ließe sich beliebig fortsetzen.

Wer nicht auch das Kleingedruckte studiert, muss sich nicht wundern, wenn das versehentlich ohne Dach bestellte Fertighaus auch ohne Dach geliefert wird (was Eduard Zimmermann widerfahren sein soll).

Fehlt die eigene Befähigung zur Beurteilung der Lage, liegt das Mittel der Wahl im Zukauf von Qualifikation. In der Wirtschaft gang und gäbe. Für finanziell weniger gut gestellte Menschen meist eine ruinöse Katastrophe.

Lento hat geschrieben: Montag, 11. August 2025, 20:56:11 … Alles wirkt auf mich sehr scheinheilig. …
Finde mal einen RA, der für einen Mandanten Schadenersatzansprüche gegen einen anderen RA durchzusetzen bereit ist. Nestbeschmutzer sind im Kollegenkreis fix unten durch. Den erforderlichen Mumm bringen nur die wenigsten RAe auf.

Lento hat geschrieben: Montag, 11. August 2025, 20:56:11 … Das ist einfach nur noch irre. …
So ist es.


Der Star-Pflichtverteidiger trat in letzter Zeit medial weniger in Erscheinung und seine Webseite versprach bereits vor mehr als einem Jahr eine neue „Internetpräsents“. Zu mehr als der Korrektur des peinlichen Rechtschreibfehlers hat es die neue Internetpräsenz bislang nicht geschafft.

Spoiler – hier klicken!


Der_Clown hat geschrieben: Dienstag, 12. August 2025, 00:11:28 Wenn die vorläufige Terminierung bis Ende 2026 angesetzt ist, erwartet uns ein echter Mammutprozess. :D
Danke für den Hinweis! Den Fehler habe ich nun korrigiert und bitte ihn zu entschuldigen.
Antworten