Mein Sohn, ein Mörder?
Iris T. wollte helfen, als die Polizei eine Person suchte, die nachts durch Aschau gejoggt war. Jetzt sitzt ihr Sohn im Gefängnis. Und die Familie ist überzeugt: Das Gericht hat im Mordfall Hanna … [W.] nicht die Wahrheit gesucht, sondern einen Schuldigen.
Mitten in der Nacht joggt Sebastian T. die letzten Meter zu seinem Elternhaus. Aschau …, 3. Oktober 2022, gegen halb drei. Seit einer knappen Dreiviertelstunde ist er unterwegs, in Laufhose, Trekkingjacke, Stirnlampe. Seine Strecke führt ihn über den Parkplatz vor der Disco „Eiskeller“, hier wird er noch von Partygästen gesehen. Dann läuft er halb rum um die Burg Hohenaschau und kurz entlang der Prien … Und ein paar Hundert Meter entfernt geht gerade ein Leben zu Ende.
Niemand sieht Sebastian T. bei seinen letzten Schritten, niemand sieht, ob er rennt, ob er außer Atem ist, ob er es gemütlich austrudeln lässt. …
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Dort, wo Sebastian T. in jener Oktobernacht angekommen ist, auf der Kieseinfahrt vor seinem Elternhaus, stehen an einem Sonntagnachmittag im Frühling seine Tanten Andrea T. und Katharina T., sie füttern Momo, den Hund der Rechtsanwältin, mit der sie seit eineinhalb Jahren schreiben, reden, telefonieren …
… dann setzen sich alle an den Tisch, die fünf Frauen, die für die Freiheit von Sebastian T. kämpfen. Seine Mutter Iris, seine Tanten Andrea und Katharina, seine Oma Erika, seine Rechtsanwältin Regina Rick. Sein Vater Frank T. kämpft diesen Kampf auch, an diesem Nachmittag ist er aber unterwegs.
Seit November 2022 sitzt Sebastian T. im Gefängnis. Der Anlagenmechanikerlehrling soll, so sieht es das Landgericht Traunstein, am 3. Oktober nicht auf direktem Weg nach Hause gejoggt sein, sondern noch einmal komplett um die Burg Hohenaschau herum, bis zur Kampenwandstraße, wo er dann auf die 23 Jahre alte Hanna … [W.] getroffen sein soll, die gerade auf ihrem 885 Meter langen Heimweg aus dem „Eiskeller“ war. Um sie zu vergewaltigen, soll er sie von hinten attackiert und mit einem Stein oder einem anderen Gegenstand auf ihren Kopf eingeschlagen haben. Nachdem die Medizinstudentin den Notruf gewählt hatte, soll der damals 20 Jahre alte Sebastian T. erst ihr Handy in den Bärbach geworfen haben und später auch die bewusstlose junge Frau. Das Landgericht Traunstein hat ihn im März 2024 wegen Mordes zu neun Jahren Haft verurteilt.
„Der Sebastian? Ausgerechnet der Sebastian soll das gemacht haben?“, fragt … Tante Andrea T., „der Einzige von uns, der immer ruhig und gelassen bleibt?“ … Jede Verwandte hat jetzt eine Geschichte. Dass es Sebastian T. immer peinlich gewesen sei, wenn er gerochen habe, und jetzt soll er sich auf einmal nach einer Joggingrunde verschwitzt einer fremden Frau genähert haben? Dass Sebastian T. nicht einmal dann die Ruhe verloren hatte, als der Bus nicht kam, er ist einfach sieben Kilometer nach Hause gelaufen, und jetzt soll er aus dem Affekt heraus ein Mörder geworden sein, einfach so? …
Niemand hat gesehen, dass er die Frau attackiert hat. DNA-Spuren? Gibt es nicht
… Niemand hat gesehen, dass er eine Extrarunde gelaufen ist. Niemand hat gesehen, dass er Hanna … [W. ] attackiert hat. Es gibt keine DNA-Spuren, keine Tatwaffe. Sebastian T. hat, auf Anraten seiner Anwälte, bislang geschwiegen. Und so gibt es nur zwei wackelige Zeugenaussagen, die ein Geständnis T.s oder zumindest Täterwissen andeuten. Rechtsanwältin Rick sagt: „Es gibt nichts, was gegen Sebastian T. vorliegt. Dieses Urteil ist ein Justizskandal.“
Ein Sprecher der Staatsanwaltschaft Traunstein schreibt per Mail, er könne derzeit „nur auf die Darstellung im Urteil des Landgerichts Traunstein verweisen“. Darin haben die Richter auf 299 Seiten ihre Sicht auf den Fall begründet.
Im vergangenen Sommer hat Regina Rick gemeinsam mit dem Hamburger Strafverteidiger Yves Georg die Revision eingelegt, auf 1742 Seiten haben sie begründet, warum ihrer Ansicht nach das Urteil voller Rechtsfehler ist. Nun prüft der Bundesgerichtshof, ob es ein weiteres Verfahren geben soll, der Beschluss wird in den nächsten Wochen erwartet.
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Dass er in all das nur hineingeraten ist, weil seine Mutter das Richtige machen wollte.
Am Nachmittag des 3. Oktober 2022 war Hanna Wörndl leblos in der Prien gefunden worden, zwölf Kilometer von Aschau entfernt.
Noch in der Nacht hatten die Rechtsmediziner … ihre Leiche untersucht. Sie hatten einen Blutalkoholwert von 2,06 Promille festgestellt, vor allem aber fünf Riss-Quetsch-Wunden am Kopf und ein beidseitig gebrochenes Schulterdach. „Am ehesten“, schreiben die Rechtsmediziner ins Obduktionsprotokoll, sei von einer „stumpfen Gewalteinwirkung von hinten nach vorne“ auszugehen. Dass also jemand von hinten auf Hanna … [W.] gesprungen sei und dann auf sie eingeschlagen habe, zum Beispiel mit einem Stein. Wenige Stunden, nachdem der Leichnam gefunden wurde, suchte die Polizei also einen Mörder. Und ganz Aschau rätselte mit. Auch die Familie T., die die Familie Wörndl nicht näher kannte …
Als sich dann die Polizei von einem unbekannten nächtlichen Jogger Hinweise erhoffte, erinnerte sich Iris T. an die Laufrunde ihres Sohnes. Sie rief bei der Polizei an.
„Da hinten standen wir“, sagt sie und zeigt zu der Küchenzeile … Sie am Telefon, ihr Sohn neben ihr, zu schüchtern, um sich selbst zu melden. Sie machten einen Termin für eine Vernehmung aus. „Wir wollten helfen.“ …
Zweimal war Sebastian T. im Herbst 2022 bei der Polizei, er erklärte seine Joggingrunde, er brachte seine Klamotten mit, er ließ sich im Keller fotografieren. Für ihn, den schüchternen jungen Mann, waren diese Befragungen offenbar anstrengend, er schwieg oft, machte Pausen, so erzählt es später eine Polizistin vor Gericht. Als die Beamten fragten, was er glaube, was passiert sei, da antwortete er erst, so steht es im Protokoll: „Ich weiß nicht, was ich jetzt sagen soll.“ Als die Beamten weiter fragten, sagte er, es könnte ja jemand Hanna … [W.] im Auto mitgenommen haben, sie zu etwas überreden wollen, was sie nicht wollte. Und dass der Fahrer ihr dann „vielleicht etwas draufgehauen hat“. Was denn, fragten die Ermittler. „Vielleicht irgendwas im Auto“, vielleicht auch „schon außerhalb“. An was er da denke? Sebastian T. antwortete: „Vielleicht irgendeinen Stein oder so.“
„Der Sebastian ist ein gutmütiger Kerl. Der weiß nicht, dass es Menschen gibt, die ihm eher nicht gewogen sind“, sagt Tante Andrea T. am Tisch in Aschau.
„Das war vielleicht sein Fehler“, sagt Anwältin Rick. „Rede niemals mit der Polizei.“
Die Ermittler wussten bei dieser Vernehmung längst, dass das mit dem Stein stimmen könnte. Dass das, was er gesagt hatte, Täterwissen sein könnte. Trotzdem durfte Sebastian T. wieder nach Hause. Als ein paar Tage später seine beste Freundin Verena R. als Zeugin aussagen sollte, schrieb er ihr, dass die Ermittlerin „voll nett“ sei. Doch dann fingen die Beamten an, nachlässig zu werden.
Die beste Freundin erzählte, dass Sebastian T. ihr abends am 3. Oktober gesagt habe, dass in Aschau „ein Mädl“ umgebracht worden sei. Für die Ermittler war klar: Das kann nur der Täter gewusst haben. Doch sie hörten nicht genau zu. Die Freundin erzählte auch, dass Sebastian T. von dem Mord in der Lokalpresse gelesen habe – die berichtete aber erst am 4. Oktober. Und, sagte sie, er habe ihr auch gesagt, dass die Leiche in der Prien gefunden worden sei. Das konnte am 3. Oktober nicht einmal der Täter wissen, die Leiche von Hanna … [W.] wurde erst spät am Abend identifiziert. All das aber interessierte die Beamten nicht. Einen Tag später nahm die Polizei Sebastian T. fest. Vor Gericht stellte sich später anhand der Geodaten der Handys von Sebastian T. und Verena R. heraus, dass das Gespräch am 4. Oktober stattgefunden hat, als also bereits viele in Aschau von einem Mord gehört hatten.
Die Verwandten stiegen irgendwann selbst in den Fluss, auf der Suche nach Antworten
Im Oktober 2023 begann der Prozess am Landgericht Traunstein. Vom ersten Tag an, sagt Oma Erika T., „haben wir gemerkt: Die Richterin will ihn verurteilen“. Als die Fotos von den Vernehmungen gezeigt wurden, sagte die Vorsitzende Richterin … Aßbichler, Sebastian T. sehe „sehr hager und bissl verwahrlost“ aus. Am dritten Prozesstag zitierte sie seine Theorie mit dem Stein und sagte: „Da stellt sich die Frage: Ist das Täterwissen oder haben Sie hellseherische Fähigkeiten?“ Sie entschied sich für Ersteres. „Wenn Sie ein Geständnis ablegen wollen, machen Sie es zeitnah, sonst ist es nicht mehr wertvoll.“ Am Tisch in Aschau sagt Oma Erika T.: „Wir hatten das Gefühl: Die wollen das gar nicht aufklären.“ Anders als die Familie, die im Frühjahr 2023 selbst angefangen hatte zu ermitteln.
Sie hatten sich gefragt: War es wirklich ein Mord? Oder könnte es auch ein Unfall gewesen sein?
Die Verwandten waren die Prien entlanggegangen, hatten nach Stellen gesucht, an denen sich Hanna … [W.] die Kopfverletzungen auch zugezogen haben könnte. Sie waren ins Wasser gestiegen, um die Abstände zwischen Stangen zu messen, könnte sie sich hier die Schulterdächer gebrochen haben? Als Bärbach und Prien mal wieder reißend waren, hatten sie eine Handtasche reingeworfen, um zu sehen, wie schnell diese davongespült wird. Weil sie diese Unfalltheorie auch vor Gericht prüfen lassen wollten, engagierten sie im November 2023 Regina Rick als zusätzliche Verteidigerin. Rick war die Anwältin von Manfred … [G.], der wenige Wochen zuvor nach dreizehneinhalb Jahren im Gefängnis freigesprochen wurde. Der Mord, für den er verurteilt worden war, das hatte Rick nachweisen lassen, war kein Mord gewesen. Sondern ein Unfall.
Doch vor dem Landgericht Traunstein kommt Rick nicht weit mit der Theorie, dass es wieder kein Mord gewesen sei, sondern nur ein Unfall. Dass Hanna … [W.] also abgerutscht sein könnte in den Bärbach.
Ein Hydromechaniker sagt, dass sie sich die schweren Verletzungen am Kopf und an den Schultern nicht im Wasser habe zuziehen können, da hätte sie nur Schürfwunden bekommen.
Das Gericht lehnte es ab, einen Hamburger Gerichtsmediziner zu hören, der die Verletzungen sehr wohl mit einem Unfall vereinbaren kann (unter anderem, schreibt er in einem Gutachten, hätten die Hände bei einem Angriff Kampfverletzungen haben müssen, sie waren aber unversehrt).
In ihrem 299 Seiten langen Urteil schreibt die Kammer, dass „ein Unfallgeschehen sicher auszuschließen“ sei, das Wörtchen „sicher“ ist unterstrichen. Sie bezieht sich dabei unter anderem auf die unverletzten Hände – bei einem Unfall, argumentiert sie, hätte sich Hanna … [W.] im Gestrüpp am Ufer festgehalten und wäre von der Strömung fortgerissen worden. Und sie bezieht sich auf den Notruf, den Hanna … [W.] um 2.32 Uhr gewählt hatte, ausgelöst durch zweimaliges Drücken der Schaltfläche „Notruf“ und dann ein Auswählen des Kontaktes „home“.
Ist es denkbar, dass dieser Notruf ein pocket call war, also ungewollt? Oder dass der Anruf beim Abrutschen oder beim Treiben im Wasser ausgelöst wurde? Die Verteidiger Rick und Georg halten das für möglich. Vor dem Landgericht Traunstein schloss das ein IT-Forensiker vom bayerischen LKA aus. Sicher ist allerdings auch: Der Notruf beweist nicht, dass Sebastian T. in der Nähe des Bärbachs war und daher auch nicht, dass er der Täter war.
Verurteilt hat das Landgericht Traunstein Sebastian T. letztlich vor allem wegen zweier Zeugenaussagen, im Urteil bewerten die Richter die eine als „konstant und schlüssig“, die andere sogar als „konstant, widerspruchsfrei und schlüssig“. Doch bei den Aussagen von Lea R. und Adrian M. ist auffällig, dass die Richter sich nicht bemüht hatten, letzte Zweifel zu beseitigen.
Einer der Hauptbelastungszeugen leidet an einer Borderline-Störung
Lea R. ist die Schwester von Verena R., deren falsche Erinnerung erst zur Verhaftung geführt hatte. Sie hatte vor Gericht erzählt, dass Sebastian T. nach einer nachmittäglichen Tischtennispartie am Chiemsee über einen Mord in Aschau gesprochen habe, und zwar am 3. Oktober, Täterwissen also. Dabei gewesen seien die Schwestern Lea und Verena R., Sebastian T. und ein weiterer Freund, Raffi W. Auch diesen Freund befragte das Gericht. Doch bei ihm klang alles ganz anders.
Nur einmal habe er mit Sebastian T. Tischtennis gespielt. Von einem Mord habe dieser dabei nichts erzählt. Und sie hätten sich auch nicht am Nachmittag getroffen, sondern, wie Raffi W. sagte, „auf d’Nocht“. (Nachfrage des Gerichts: Wann es auf d’Nocht sei? – Antwort des Zeugen: „Auf d’Nocht is’, wenn’s finster wird.“) Er wisse das, weil er immer seinem Onkel im Stall helfe, vor 20 Uhr habe er nie Zeit. Außerdem habe Sebastian T. fluoreszierende Bälle dabeigehabt, die im Dunkeln leuchten, und ihre Handys, die hätten sie als Scheinwerfer genutzt.
Raffi W. war sich zudem sicher, dass auch „der andere Sebastian“ mitgespielt habe. Auch dieser Zeuge, Sebastian W., erinnerte sich an eine gemeinsame Tischtennispartie, nur sei die nicht am 3. Oktober gewesen, seine Mama könne „mit Sicherheit bestätigen“, dass er an jenem Abend zu Hause war.
Die Geodaten des Handys von Raffi W. hätten viele Zweifel an dieser Tischtennisgeschichte ausräumen können. War er doch am 3. Oktober am Chiemsee? Oder hatten sich die Freunde an einem anderen Tag getroffen? Verteidigerin Rick hatte beantragt, das Handy von Raffi W. auszuwerten, das Gericht lehnte das ab. Die Begründung: So könne nur nachgewiesen werden, wo sein Handy war, nicht aber, wo er selbst war.
Am Tisch in Aschau sagt Tante Katharina T., dass sie alle in der Familie einen Gerechtigkeitssinn hätten. Dass dann ausgerechnet das Gericht nicht alles überprüft hat, „das macht uns sauer und wütend“.
Und dann war da noch Adrian M., ein Mithäftling, der sich wenige Tage nach dem Prozessauftakt bei der Staatsanwaltschaft gemeldet hatte: Sebastian T. habe ihm den Mord gestanden, rund um Weihnachten 2022, bei Spekulatius und Kartenspiel in der Zelle. Er habe, soll Sebastian T. gesagt haben, Hanna … [W.] „bewusstlos geschlagen“, damit sie sich „nicht wehren“ könne. So stand es in etwa auch in der Anklage und somit in den Presseberichten nach dem Prozessauftakt. Alle anderen Zeugen aus der Haft sagten vor Gericht, Sebastian T. habe die Tat stets abgestritten.
Hatte sich also Sebastian T. allein Adrian M. anvertraut? Oder hatte der sich was zusammengedichtet? Er hatte ja selbst gesagt, dass er an einer Borderline-Persönlichkeitsstörung leide, ein Symptom dieser psychischen Krankheit: das Verdrehen der Wahrheit. Und damit hatte Adrian M. seine Erfahrung.
Ihr Vertrauen in die Justiz ist zerstört. Und doch machen sie schon Zukunftspläne
Ein paar Jahre zuvor war er in einen jahrelangen Streit der eigenen Eltern hineingeraten, mal hatte er die Mutter belastet, mal den Vater. Vor dem Amtsgericht Laufen sagte seine Mutter, dass sich ihr Sohn schnell manipulieren lasse. Adrian M. selbst sagte während der Verhandlung, er habe mal bei der Mutter gut dastehen wollen, mal beim Vater. Und: Er habe die Aussagen so gemacht, wie es gerade gepasst habe.
Im Gefängnis saß Adrian M., weil er minderjährige Mädchen erpresst hatte, ihm anzügliche und teilweise sexualisierte Fotos und Videos zu schicken. Einem Mädchen hatte er gesagt, er habe Krebs im Endstadium. Eine weitere Lüge.
T.s Verteidigerin Rick hatte schon im Prozess beantragt, die Gefängnispsychologin von Adrian M. zu hören. Auch das lehnte das Gericht ab.
Zu Hause im Wohnzimmer sagt Mutter Iris T.: „Wir sind so viel misstrauischer geworden. Wir wussten irgendwann nicht mehr, wer wirklich an der Wahrheit interessiert ist.“
Anruf bei Walter Holderle, dem Anwalt der Eltern von Hanna … [W.], die im Prozess als Nebenkläger aufgetreten waren. Er betont erst einmal, dass es den Eltern wichtig sei, dass niemand zu Unrecht im Gefängnis sitze. Dass alles aufgeklärt werde. Er findet aber auch, dass das Gericht „es sich nicht leicht gemacht“ habe, nicht mit dieser Tischtennispartie, nicht mit dem Mithäftling Adrian M. Und auch nicht mit der Unfalltheorie, die Holderle für „abstrus“ hält. Ein Indizienprozess, sagt er, basiere nun einmal auf Indizien, und er sehe da „kleine, wesentliche Mosaiksteine, die zusammen ein klares Bild ergeben“.
Er denkt dabei daran, dass Sebastian T. bislang vor Gericht geschwiegen hat. „Wenn ich ein unschuldiger junger Mann bin, gehe ich da doch nicht hin und schweige“, sagt Holderle, „da sage ich: Ihr bekommt alles, was ihr wollt, bis auf die Tausendstelsekunde lege ich mein Leben offen.“ Oder er denkt daran, dass Sebastian T. weggeschaut habe, als vor Gericht die Fotos der Leiche von Hanna … [W.] gezeigt wurden. Oder dass der psychiatrische Sachverständige bei ihm keine Frustration gesehen habe, wie sonst so oft bei unschuldig Angeklagten. Holderle sagt: „Ich sehe es so, dass die Verurteilung richtig war. Es sind genügend Indizien da, die keinen Zweifel an der Täterschaft lassen.“
… Noch trauen sich die Mutter, die Oma und die Tanten von Sebastian T. nicht, allzu zuversichtlich über ein mögliches neues Verfahren zu reden. Zu sehr ist ihr Vertrauen in die deutsche Justiz zerstört worden. Und doch, manchmal machen sie schon Zukunftspläne. Sobald er wieder in Freiheit sein wird, das haben sie ihm versprochen, fahren sie in den Urlaub, Sebastian T. dürfe sich ein Ziel aussuchen. Ganz besonders, erzähle er ihnen manchmal, freue er sich aufs Skifahren. …
Süddeutsche.de am 14.04.2025
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