Sie brauchten einen Mörder
* Nachname geändert
… Nach einer Nacht in der Diskothek kommt eine Studentin zu Tode. Die Polizei verhaftet einen jungen Mann – und ein Landgericht verurteilt ihn, obwohl es keine objektiven Beweise gibt.
Reue ist eine Krankheit. Sie frisst sich durch die Nächte … und tut weh. So geht es Iris Trautmann* … Immer wieder muss sie an den Morgen des 20. Oktober 2022 denken, an dem sie um kurz vor sieben den Hörer ans Ohr hob und beim Hinweistelefon der Kriminalpolizei Rosenheim anrief. … „Ich war so naiv.“
Am Tag zuvor war … ein … Zeugenaufruf veröffentlicht worden: Man suchte nach einem Jogger … Frau Trautmann meldet nun, ihr Sohn Sebastian sei in jener Nacht joggen gewesen, er habe für einen Halbmarathon trainiert. … Während des Anrufs steht der damals 20-Jährige … neben seiner Mutter und hört zu. Sie übernimmt häufiger die Kommunikation für ihn, weil er unsicher ist im Umgang mit Amtspersonen.
Sebastian … bekommt einen Termin zur Zeugenvernehmung und geht hin. Allein, denn seine Mutter hat keine Zeit. Das ist der zweite große Fehler, den sie sich nicht verzeiht …
„Man hat uns hinters Licht geführt“, sagt Iris Trautmann heute. „Ich hätte niemals anrufen dürfen.“ Sie hatte damals keine Erfahrungen mit der Polizei. Sie habe gedacht: „Wenn Bürger um Mithilfe gebeten werden, muss man sich doch melden.“ …
Zweieinhalb Wochen vor dem Anruf … hatte ein Spaziergänger … eine weibliche Leiche entdeckt … Bei der Toten handelte es sich um … Hanna Wolf* …
Hanna wird … kurz vor halb drei das letzte Mal gesehen. Sie macht sich allein auf den … Heimweg … An diesem 3. Oktober hält die … Videoüberwachung … fest, wie Hanna sich von Freunden verabschiedet und sich dann schwankend entfernt. … eine kleine Umhängetasche mit dem Handy lugt unter ihrer schwarzen Lederjacke am Rücken heraus. …
Kurz nach halb drei hört eine Frau, die in einem Hotel … übernachtet, einen Schrei. Keinen Hilferuf, eher einen Schrei des Erschreckens. Andere Personen, die auf der Straße um dieselbe Zeit unterwegs sind … hören und sehen nichts.
Als Hanna … tot aus der Prien geborgen wird, … hat [sie] keine Hose mehr an. Auch die Umhängetasche fehlt, ebenso die Lederjacke …, … das Handy und zwei Ringe. Sämtliche Gegenstände (bis auf einen der … Ringe) werden … aus dem Bärbach und aus der Prien … gefischt. … Ihr Tod trat durch Ertrinken ein.
Die Leiche weist zahllose … Verletzungen auf. … Aus dem Befund schließen die Rechtsmediziner, dass viele der Verletzungen durch das stundenlange Treiben im aufgewühlten Wasser entstanden sein müssen. Aber sie formulieren auch die Hypothese, Hanna … könnte gewaltsam angegriffen worden sein … Wegen der fünf Kopfwunden und der Schulter[dach]brüche halten die Ärzte es für möglich, dass die … Frau von hinten angesprungen, zu Boden gebracht und dann bei einem „dynamischen Kampfgeschehen“ mit einem harten Gegenstand am Kopf verletzt worden sein könnte, etwa einem kleinen Hammer oder einem Stein.
Jetzt sucht die Polizei nach einem Mörder. …
… Die 60 Ermittler der Soko nehmen den Bekanntenkreis … unter die Lupe, befragen 1.173 Zeugen und werten … digitale Daten und Telekommunikationsverbindungen aus. Einen Täter finden sie nicht. Eine ganze Weile … verfolgen sie … einen Verdächtigen, dem eine … am Grunde des Bärbachs gefundene Uhr gehören soll. Nach aufwendigen Recherchen … stellt sich heraus, dass der … Eigentümer … ein harmloser Wanderer ist, der beim Urinieren wie schon so mancher vor ihm in den Bärbach fiel … Dabei verlor er seine Uhr. …
Schließlich fahnden die Beamten nach jenem … Jogger … als Zeugen …
Sebastian … ist das entwicklungsverzögerte Sorgenkind der … Familie Trautmann. Er lebt … mit seinen Eltern, Schwestern, Großeltern, Tanten und Cousinen zusammen. … Der Vater ist Gymnasiallehrer für Mathematik und Physik, die Mutter eine gelernte Augenoptikerin, die nun aber Kinder mit Behinderung betreut. Sebastian … ist ein zurückgezogener und schüchterner Mensch, ein Außenseiter, der kaum Freunde hat und Kummer mit sich selbst ausmacht. … Sein IQ ist mit etwa 80 im unteren Bereich, als Kind litt er an ADHS und einer Sprachstörung und hatte große Schwierigkeiten beim Lernen. … Sein zierliches Erscheinungsbild versucht er durch Sport zu kompensieren. Er geht exzessiv ins Fitnessstudio, schwimmt und läuft – auch zu sehr ungewöhnlichen Zeiten. In manchen Nächten steigt er mit der Taschenlampe auf Berge, um sich vom Gipfel aus den Sonnenaufgang anzusehen.
Seine Vernehmung … am 21. Oktober 2022 dauert eine gute Stunde und wird für ihn – wie ein psychiatrischer Sachverständiger später notieren wird – zum maximalen Stresserlebnis. Sebastian … hat auf Verlangen … die Jacke und die Stirnlampe mitgebracht, die er in der Nacht … trug. Auf einer Landkarte zeichnet er seine … Laufstrecke ein: Sie habe fast bis zum Bahnhof Aschau geführt … und zuletzt in die Nähe des „Eiskellers“. Hanna
[s] … Heimweg liegt nicht auf der gezeichneten Route.
In der Befragung wirkt er, so notieren es die Ermittler, „zurückhaltend“ und „sehr bemüht“. … Obwohl man ihn angeblich nur als Zeugen vernimmt, wird er wie ein Verdächtiger erkennungsdienstlich behandelt: Die Beamten nehmen ihm … Genmaterial ab und fotografieren ihn zwölfmal …
… Von der erlaubten kriminalistischen List zur verbotenen Täuschung ist es nur ein kleiner Schritt. Ein Zeuge ist … zur wahrheitsgemäßen Auskunft verpflichtet – ein Beschuldigter dagegen … hat das Recht, zu schweigen … Außerdem müsste die Vernehmung bei Mordverdacht per Video aufgezeichnet werden. Immer wieder hebt der Bundesgerichtshof Strafurteile auf, weil die Polizei … rechtswidrig an Informationen gelangt ist – … [indem] sie jemanden weiter in der ungeschützten Rolle des Zeugen befragt hat, obwohl sie ihn längst der Tat verdächtigte. War das auch bei Sebastian … so?
Seine polizeilich initiierte Spekulation wird zu Täterwissen
Die Bild [-Zeitung] wird … später berichten, die Beamten hätten zunächst behauptet: „Weitere sachdienliche Hinweise ergaben sich aus der Einvernahme des Joggers nicht.“ Dabei sei „Sebastian T. von Anfang an im Visier der Polizei“ gewesen.
Das ergibt sich auch aus seiner zweiten Vernehmung am 10. November … Inzwischen hat man die Fitnessuhr und das Handy des angeblichen Zeugen … ausgewertet. Wieder ist er allein da … Seine Mutter ist immer noch arglos.
… Sebastian … wird gefragt, wann er vom „Tötungsdelikt“ erfahren habe – die Rechtsmediziner hatten das zwar nur als Möglichkeit formuliert, die Beamten scheinen sich jetzt aber sicher zu sein: Hanna … wurde umgebracht. „Am Montagabend“, antwortet … [Sebastian] … Er habe es bei einem Online-Nachrichtenportal gelesen und noch mit seiner Mutter darüber geredet …
Tatsache ist: Die Öffentlichkeit erfuhr erst am Dienstag … davon … Mit diesem Umstand … konfrontiert, ist sich … [Sebastian] jetzt „nicht mehr sicher“. Trotzdem verbuchen die Beamten seine Aussage als Täterwissen. Dass sich jemand Wochen später einfach nur im Tag irren könnte, glauben sie offenbar nicht.
… Sebastian …, der sich unter Stress nur schlecht artikulieren kann, ist den zwei … Vernehmern intellektuell nicht im Ansatz gewachsen. Immer wieder legt er Denkpausen ein und stützt den Kopf in die Hände. Sie werden ungeduldig: „Was sind Sie denn so nachdenklich?“ … Dann wollen sie plötzlich wissen, welchen Mädchentyp … [Sebastian] bevorzuge. Und sie stellen ihm eine Falle – er soll spekulieren, wie Hanna … umgebracht worden sein könnte: „Was denken Sie denn, was passiert ist?“
… [Sebastian] reagiert überrascht: „Ich weiß nicht, was ich jetzt sagen soll.“ Vielleicht traut er sich dann aber einfach nicht, die Antwort zu verweigern. Vielleicht will er es – wie viele überforderte Menschen in solch einer Situation – den Kriminalbeamten auch recht machen. Jedenfalls räsoniert er darüber, dass Hanna … in einem Auto mitgenommen worden sein könnte. Dass der Fahrer sie nicht rausließ und zu etwas zwingen wollte. Und dass er ihr „dann vielleicht etwas draufgehauen hat“.
Die Beamten insistieren: was denn draufgehauen?
… [Sebastian]: „Vielleicht irgendwas im Auto, was da drin war. Oder auch schon außerhalb …“
„An was denken Sie da jetzt?“
… [Sebastian]: „Vielleicht irgendeinen Stein oder so.“
Obwohl zu diesem Zeitpunkt Presse und Radio darüber berichten, dass die Tote schwere Kopfverletzungen hatte, und obwohl bis heute nicht aufgeklärt ist, woher diese Verletzungen tatsächlich rühren, wird dieser eine Satz zu Sebastian
[s] … Verhängnis … Später im Gerichtsurteil wird seine polizeilich initiierte Spekulation zu Täterwissen. Auf welche Weise die Kriminalbeamten diese Aussage provoziert haben, steht allerdings nicht im Urteil. Dass … [Sebastians] Gedankenspiel über ein angebliches Auto Unsinn war, … wird da schon längst keine Rolle mehr spielen.
Eine Woche nach dem zweiten Verhör … wird Sebastian … verhaftet. Gegenüber der Kripo hat ihn jetzt auch noch zusätzlich eine Frau belastet. Verena Raubold* gehört zu den wenigen Freunden, die er hat … Verena … behauptet nun, ihr „bester Spezl“ Sebastian habe ihr am frühen Abend des 3. Oktober etwa um 19 Uhr beim Spazierengehen erzählt, „dass da beim ‚Eiskeller‘ eine umgebracht wurde“. Also noch bevor es in den Online-Medien stand. …
… Die Zeugin Verena … verweigert … später im Prozess … nach allerhand chaotischen und wirren Behauptungen die weitere Aussage. … Das Gericht wird zuletzt gar nichts mehr auf diese Zeugin stützen und im Urteil bloß schreiben, sie habe „die Bedeutung ihrer Aussage aufgrund ihrer erkennbar eingeschränkten geistigen Fähigkeiten“ nicht erkannt.
Interessant ist Verena … dennoch – wegen der WhatsApp-Nachrichten, die sie … nach ihrem Verhör … verschickt. Die Nachrichten lassen die Not einer völlig aufgelösten jungen Frau erahnen. Es klingt, als hätten die Beamten ihr Angst gemacht, um an belastende Aussagen gegen … [Sebastian] zu gelangen.
Um 13.38 Uhr …, vier Minuten nach Verlassen der Polizeiinspektion …, schreibt sie an einen Freund, man habe Fahndungsfotos von ihr angefertigt … „… Und die haben gesagt, ich soll mir einen Anwalt holen“.
Um 13.43 Uhr widerruft sie gegenüber ihrer Mutter das Datum, das Sebastian … belastet: „es war nicht am 3. …, wo wir uns getroffen haben, sondern am 5. …“
Um 13.48 Uhr, wieder an den Freund: „Ich habe so Angst, ich bin am Arsch“.
Um 14 Uhr: „Mama, ich hab mich um das Datum vertan, es war nicht der 3., sondern der 5.“
Um 14.04 Uhr an den Vater: „Jetzt bin ich da in eine Scheiße mit reingeritten worden und die denken jetzt, dass ich das Mädchen umgebracht hätte, ich und der [Sebastian] Trautmann“.
Die Richter werden … dafür aber umso mehr … [Verenas] jüngerer Schwester Lea glauben. Fünf Tage nach Verena behauptet Lea gegenüber der Polizei, sie sei am Nachmittag des 3. Oktober mit Verena, … Sebastian und … Raffael an den Chiemsee zum Tischtennisspielen gefahren. Als das Quartett … auf dem Rückweg zum Auto gewesen sei, habe Sebastian … ihnen erzählt, dass „in Aschau eine Frau umgebracht worden ist“ … Das konnte zu diesem Zeitpunkt natürlich noch niemand wissen. „Wir waren alle drei ziemlich geschockt, als uns das der Sebastian erzählt hat, und haben uns dann schon noch gegenseitig gefragt, wie so was passieren kann.“
… Raffael hingegen sagt aus, er habe nichts dergleichen gehört. Er kann nicht einmal bestätigen, dass man an jenem Tag überhaupt gemeinsam beim Tischtennisspielen war. Einen Handydatenbeweis, ob Raffael wirklich am Chiemsee war, ermittelt die Kripo nicht. …
Es gibt keinen Tatzeugen, es gibt kein Tatwerkzeug
… in der Hauptverhandlung … will sich … Lea später nicht mehr festlegen, ob sie zu viert wirklich über den Mord gesprochen haben und ob außer ihr noch jemand etwas davon mitbekommen hat. Sie behauptet aber, nach ihrer Heimkehr … „Mord in Aschau“ gegoogelt, doch … nichts dazu gefunden zu haben. Einen Beweis für diese Aussage, etwa eine digitale Spur … gibt es nicht.
Von ähnlicher Qualität … ist auch die belastende Aussage der Mutter Raubold …: Am Abend des 17. November 2022 … kommt Sebastian … zu Besuch. Außerdem … Max. Verena eröffnet Sebastian, dass er ihrem Eindruck nach jetzt der Hauptverdächtige ist. Worauf Sebastian anfängt, sich zu betrinken.
…
An diesem Abend nun soll … [Sebastian] … sinngemäß gesagt haben …: „Ja, ich war’s. Ich hab sie umgebracht.“ Die Mutter gibt an, sie habe Sebastian geraten, sich einen Anwalt zu nehmen. Im Weiteren hat die Tischgesellschaft die spontane Äußerung offenbar beschwiegen … – die Raubolds lassen Sebastian, der ihnen gerade einen Mord gestanden haben soll, sogar bei sich übernachten. …
Auffällig …: Als Lea … und ihre Mutter fünf Tage nach dem Abend erstmals und gleichzeitig eine volle Stunde lang vernommen werden, erwähnen sie … [Sebastians] angebliches Bekenntnis mit keinem Wort. …
… Max … hat die Situation anders in Erinnerung. … Max hat Sebastian
[s] … Satz nicht als Geständnis begriffen. Sondern als Ausdruck bitterer Ironie und großer innerer Bedrängnis.
Der Sachverständige für Jugendpsychiatrie … Huppert kann bei … [Sebastian] kein erhöhtes Aggressionspotenzial erkennen. Im Gegenteil – er bescheinigt … „vielmehr eine Aggressionshemmung“. Zur vermeintlichen Geständnisszene … schreibt … Huppert: Auf die Mitteilung, er sei der Hauptverdächtige, habe … [Sebastian] weder konfus noch desorganisiert reagiert, sondern habe „mit einer Bemerkung wie: ‚Dann sollen sie mich doch verhaften, dann ist der Scheiß endlich vorbei‘“ eine fatalistische Haltung zum Ausdruck gebracht, die seiner Persönlichkeit entspreche.
Anders als in zahlreichen anderen Ländern gibt es in Deutschland … keine gesetzliche Pflicht, Strafverfahren lückenlos … zu dokumentieren. … Der Mangel an Dokumentation ist im Fall … [Sebastian] besonders verhängnisvoll, denn am Ende geht es um nichts anderes als um kolportierte Wortfetzen vom Hörensagen.
Kommt es dann zur Verhandlung vor einem Landgericht …, schreibt kein Protokollführer mit, was gesagt wird. Es bleibt den Richtern überlassen, was sie sich notieren wollen. …
… In ihrem schriftlichen Urteil stellen die Richter das Tatgeschehen später so dar: … [Sebastian], sexuell unerfahren und von Mädchen frustriert (auf seinem Handy fanden sich zahllose Zugriffe auf Pornofilme, darunter auch viele gewalttätige), soll der betrunkenen Hanna … entgegen seiner Aussage bei der Polizei eben doch zwischen 2.30 Uhr und 2.32 Uhr beim Joggen auf der Straße begegnet sein. Erregt vom Anblick ihres hervorlugenden Tangaslips, habe er die zwanzig Zentimeter größere und zehn Kilogramm schwerere Frau spontan von hinten angesprungen und zu Fall gebracht. Dabei habe Hanna jenen Schrei ausgestoßen, den eine Zeugin im Hotel gehört hat.
Danach soll … [Sebastian] sich massiv auf sein Opfer gekniet haben, „wobei er im Rahmen des dynamischen Geschehens auf den Rücken und den Oberarm der Geschädigten mit erheblicher Kraft einwirkte“ – Hanna … hatte allerdings keine für ein dynamisches Geschehen sprechenden Abwehrverletzungen, und niemand hörte einen Hilferuf. Trotz der Wucht des Angriffs soll es ihr noch gelungen sein, das im rückwärtigen Täschchen verborgene Handy zu ergreifen und einen Notruf nach daheim abzusetzen, der aus technischen Gründen nicht zustande kam – einen Notrufversuch um 2.32 Uhr hat es gegeben. Dann habe … [Sebastian] ihr das Handy entrissen und es in den neun Grad kalten Bärbach geschleudert – gegen 2.33 Uhr kam es zu einem Temperaturabsturz im Gerät. Um Hanna wehrlos zu machen, habe … [Sebastian] ihr mit einem unbekannten Gegenstand fünfmal wuchtig auf den Kopf geschlagen. Danach soll er ihr sexuell motiviert Lederjacke und Hose ausgezogen, dann aber sein Vorhaben plötzlich aufgegeben haben – die kaputte Hose und die Jacke fehlten, aber Oberbekleidung, Büstenhalter und Tangaslip der Toten saßen „regelrecht“ und unangetastet.
Weil … [Sebastian] Hanna … – entgegen seiner Aussage bei der Polizei – eben doch vom Sehen gekannt und nun befürchtet habe, von ihr identifiziert zu werden, soll er die Betäubte in der Absicht, seine versuchte Sexualstraftat zu verdecken, in den 2,30 Meter breiten und zu diesem Zeitpunkt 1,40 Meter tiefen reißenden Bärbach geworfen haben, wo sie nach vier bis fünf Minuten ertrank.
Diese Version steht im Urteil. … Einen objektiven Beweis für die Täterschaft von Sebastian … gibt es nicht, es steht ja nicht einmal fest, ob er Hanna … je begegnet ist: An der Toten fand sich keine DNA von ihm, kein Sperma, kein Blut, keine Schuppe. … Doch auch umgekehrt fand sich, obwohl die Polizei … [Sebastians] ganzes Zuhause mehrfach auf den Kopf stellte, keinerlei DNA der Toten an den Sachen des Angeklagten. Und das bei einem „dynamischen Geschehen“ und fünf Kopfwunden, die stark geblutet haben müssten.
Es gibt auch keinen Tatzeugen: Niemand hat etwas gesehen.
Es gibt kein Tatwerkzeug: Nicht einmal einen blutbefleckten Stein fanden die Ermittler.
Es gibt keinen Tatort: Mantrailer … schlugen nirgends an. Zum „Tatort“ deklarierte das Gericht schließlich ein paar Quadratmeter … an einer winzigen Brücke … zwischen dem Bärbach und … der Hauptstraße … Etwa dort enden nämlich die Handydaten der Verstorbenen. … Indes war um 2.30 Uhr auf der Hauptstraße einiges los: Immer wieder kamen Partygänger vorbei, fuhren mit dem Auto vom „Eiskeller“ weg oder wurden mit dem Taxi abgeholt. Fällt man an einer so gut einsehbaren Stelle über ein Opfer her? Hundert Meter weiter hätte Hanna … an einem kleinen Wald vorbeigemusst. Hätte ein ortskundiger Sexualverbrecher nicht eher dort zugeschlagen?
Die Richter lehnen fast alle Beweisanträge der Verteidigung ab
Bleibt das Motiv. Reicht es aus, jemanden als Sexualmörder zu verurteilen, weil er Pech bei Mädchen hat und sich (gewalttätige) Pornofilme herunterlädt? … Und was ist das für ein Vergewaltiger, der seinem Opfer … Hose und Lederjacke auszieht, die Unterwäsche aber nicht anrührt?
Und zuletzt die Tatzeit: Frühestens um 2.30 Uhr kann … [Sebastian] … auf Hanna … gestoßen sein. Schon um 2.42 Uhr spielte aber jemand … auf … [Sebastians] Handy … Clash of Clans. Damit wären Sebastian … für den Angriff, die versuchte Vergewaltigung, den Mord und den Heimweg … maximal zwölf Minuten geblieben.
Auch ein Geständnis gibt es nicht: Sowohl im Polizeiverhör als auch gegenüber dem psychiatrischen Sachverständigen, ja sogar im Innenverhältnis zu seinen Rechtsanwälten hat Sebastian … die Tat bestritten. … Er bestreitet sie bis heute. Sein … Pflichtverteidiger … Baumgärtl sagt gegenüber der ZEIT, er habe … [Sebastians] Schuld zunächst für möglich gehalten, dieser habe aber trotz seiner „einfachen Struktur“, des großen Drucks und der „hundertmal“ in Aussicht gestellten Chance auf eine Strafmilderung, die er durch ein Geständnis erreichen könnte, immer widerstanden. Das habe ihm, Baumgärtl, zu denken gegeben.
Das Beharren auf seiner Unschuld hat dem Angeklagten … neun Jahre Gefängnis eingebracht.
In der Hauptverhandlung hat … [Sebastian] geschwiegen … Die Verteidigung wollte es so. … Zur ZEIT sagt [RAin] Rick: Die Stimmung auf der Richterbank und in den Medien sei derart feindselig gewesen, dass sie auch einem wortgewandteren und clevereren Mandanten zum Schweigen geraten hätte. Man habe … [Sebastian] ohnehin kein Wort glauben wollen. In Fußfesseln habe er den Prozess durchstehen müssen und sei von der Vorsitzenden Richterin angefahren worden. …
… Rick … hält Hanna
[s] … Tod für die Folge eines … Unfalls: In der Version der Verteidigung wird der stark alkoholisierten Hanna in der kalten Nachtluft übel oder schwindelig – sie wählt den Notruf. Möglicherweise hockt sie sich auch mit heruntergelassener Hose an den Bärbach, um zu urinieren. Jedenfalls stürzt sie mitsamt dem Handy in die eiskalte Strömung, wobei sie einen Schrei ausstößt. Im tobenden Wasser gelingt es ihr noch, die Lederjacke loszuwerden. Doch im gemauerten Kanal des Bachs kann sie sich nicht festhalten und ertrinkt.
Die weitere Entkleidung der Toten übernimmt dann das aufgewühlte Wasser mit seinen Strudeln und Fällen. Auch die Kopfverletzungen, Brüche und Rückenunterblutungen der Leiche sind nach Ansicht der Verteidigung sämtlich als Folgen ihrer rasenden Fahrt in den Hochwasserfluten zu erklären …
Die Version der Verteidigung ist nicht aus der Luft gegriffen. Regina Rick benennt renommierte Sachverständige … die ihre Variante für absolut plausibel halten. … Doch die Richter lehnen fast alle Beweisanträge … ab. An anderen Geschehensabläufen sind sie nicht interessiert. Ihre eigenen Gutachter stützen die Version der Anklage. Trotzdem bleibt deren Beweislage kümmerlich.
… zwei Tage nach Beginn des Prozesses [meldet sich] ein Mann bei der Staatsanwaltschaft …: Adrian Müller*, ein Untersuchungshäftling. … Der Angeklagte habe Ende 2022 ihm gegenüber ein Geständnis abgelegt.
… Dass es zehn Monate gebraucht hat, bis … [Adrian] sich durch … [Sebastians] angebliche Beichte seelisch „belastet“ gefühlt haben will, stört das Landgericht … in seiner Beweisnot nicht. Auch nicht, dass der Zeuge seiner Hoffnung Ausdruck verliehen hat, für ihn könnte bei seinem eigenen Strafprozess „was rausspringen“, eine „Strafmilderung“ etwa oder ein „Deal“. …
Die Kammer wird ihm trotzdem jedes Wort glauben. Obwohl seine Mitteilungen nicht über das hinausgehen, was … wenige Tage vor seiner Aussage in den Medien stand.
… Weiterführende Erkenntnisse kann … [Adrian] nicht liefern: etwa, an welchem Ort und mit welcher Waffe das Verbrechen geschehen sein soll, was … [Sebastian] im Anschluss getan oder warum er den sexuellen Übergriff abgebrochen habe.
Es nützt auch nichts, dass die Beamten ihn … behandeln wie ein rohes Ei: … immer wieder wird laut Protokoll „geschmunzelt“ und „gekichert“. Wie auf eine Gebärende reden die Verhörspersonen auf … [Adrian] ein: „Wie fühlen Sie sich?“ Sie sprechen ihm auch Mut zu: „Sie machen das gut.“ – „Sie machen das super.“ – „Das ist schon eine Leistung, die Sie da vollbringen.“ …
…
Abstimmungen hinter dem Rücken der Verteidigung
… Dass Häftlinge einander etwas anhängen, um Vergünstigungen zu bekommen, ist an der Tagesordnung. Darüber hinaus ist Adrian … kein unbeschriebenes Blatt: Bereits Jahre zuvor hat er die eigene Mutter … durch eine Falschbezichtigung vor Gericht gebracht. Im Dezember 2022 wurde er wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern verurteilt …
Als … [Adrian] auf … [Sebastian] stößt, ist er schon wieder angeklagt: Erneut soll er 15 Mädchen auf die gleiche Weise unter Druck gesetzt haben. … Dafür wird er im Frühjahr 2024 zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von vier Jahren und vier Monaten verurteilt.
Dass Adrian … in seinem Verlangen, andere zu beherrschen und zu täuschen, keine Grenzen kennt, hat auch mit seiner schweren psychischen Erkrankung zu tun, einer Borderline-Persönlichkeitsstörung. Diese geht mit Wahrnehmungsverzerrungen und der Neigung zu Manipulation einher und macht ihn zu einem denkbar unzuverlässigen Zeugen. Darüber hinaus wurden bei ihm eine „dissoziale Persönlichkeit“ und eine „hyperkinetische Störung des Sozialverhaltens“ diagnostiziert. Obwohl die Traunsteiner Richter diese Belastung und seine Vorgeschichte kennen, behandeln sie … [Adrian] wie einen ganz normalen Gewährsmann und verzichten darauf, einen Psychiater und einen Aussagepsychologen hinzuzuziehen, wie es die ständige Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs bei derart problematischen Zeugen verlangt.
Dass mindestens die Vorsitzende … Aßbichler … [Adrians] Angaben für bare Münze nimmt und … von … [Sebastians] Schuld schon Monate vor dem Urteil überzeugt ist, lässt ein E-Mail-Wechsel vermuten … Darin stimmt sich der zuständige Staatsanwalt mit seiner Duzfreundin … Aßbichler hinter dem Rücken der Verteidigung darüber ab, welchen Tatablauf man einer Verurteilung zugrunde legen könnte …
…
Noch ist … [das Urteil] nicht rechtskräftig. Die Verteidigung ist in Revision gegangen. Die Sache liegt jetzt beim Bundesgerichtshof.
Zeit online am 11.09.2024
https://www.zeit.de/2024/39/mordfall-ha ... ng-prozess