AngRa hat geschrieben: ↑Montag, 07. Juni 2021, 22:00:41
@Stiller Gast
Vergiften wäre natürlich auch eine Möglichkeit. Heutzutage kann man sich über tödlich wirkende Gifte sehr leicht über Google informieren. So hat es im Baumer Fall der Verlobte auch gehandhabt.
Ja, ja, der Fall Maria Baumer. Da gibt es Anstöße. Nicht wegen des Gifts als Tatwerkzeug, nichts ist unmöglich. Aber das ist ein Lehrstück, aus dem wir Einiges lernen können über die menschliche Psyche und unsere Grenzen hinsichtlich der Entwicklung von Motiven. Wir denken eben meistens so, wie wir halt zu denken gewohnt sind, und nicht wie ein Täter denkt, schon gar nicht, wenn dieser Täter psychisch gestört ist oder unter großem psychischen Druck steht.
Wenn man keinen Täter hat, dann versucht man gemeinhin, ein Motiv aus Charakteristik und Lebensumständen des Opfers zu entwickeln, gleicht bekannte Muster ab, und schaut ob dieses Motiv dann zum Opfer passt und wenigstens auf einen Tätertyp oder gar eine bekannte Person deutet. Da kann man dann bei einem Verdächtigen nachhaken, und wenn der ein bombenfestes Alibi hat, dann war’s halt nichts. Dann geht es weiter mit neuen Motiven oder Verdächtigen, und wenn einem dann nicht DNA- oder andere Spuren oder Aussagen auf die Sprünge helfen, wird es kompliziert.
Wer hätte bei Maria Baumer zu Anfang ein Motiv erkennen können? Eine so fröhliche, patente und kompetente junge Frau auf dem Weg zu einer beruflichen Karriere. Und der Verlobte: Was für ein Glückspilz. Was hätte der für ein Motiv haben können, seine eigene Zukunft zu zerstören.
Und doch: Da war ein Motiv für den Täter. Maria Baumer war dominant in mehrfacher Hinsicht. Durch ihre solide Herkunft, fest verankert in den Werten der katholischen Gemeindearbeit, ausgezeichnete berufliche Ausbildung, frisch gewählte Vorsitzende der Katholischen Landjugendbewegung – man sagte ihr eine Karriere voraus. Dagegen der Verlobte: Pfleger in der Psychiatrie. Es gibt Männer, die mögen dieses Gefälle nicht, sie wenden sich ab von einer solchen Verbindung, suchen nach einem Menschen, bei dem sie sich nicht minderwertig fühlen, lösen die Verbindung. Ich habe selbst einen solchen Fall erlebt, aber dort hat sich der Mann nach einem Gespräch getrennt, nicht ohne einen Scherbenhaufen zu hinterlassen. Der Verlobte von M.B. hat eine für ihn adäquate Person in einer Patientin der Psychiatrie gefunden. Aber für ihn – und da kommen wir in die Tiefen der gestörten menschlichen Psyche – war die Hürde für ein Gespräch höher als die für einen ausgeklügelten Mord, der zwei Leben zerstörte. Das war das zweite Motiv für diesen Mord, das erste liegt, ohne Verschulden des Opfers, in dessen für den Täter „bedrohlichen“ Persönlichkeit.
Wenn wir das nun auf „unseren“ Fall hier anwenden, dann stellt sich mir die Frage, ob wir aus dem Fall Baumer Erkenntnisse ziehen können. Es gibt noch andere Formen der Dominanz, außer der einer höheren beruflichen oder intellektuellen Qualifikation, nämlich die – nennen wir es einmal so – moralische Dominanz, in der ein Mensch geradezu der personifizierte Vorwurf für andere Menschen wird, Schuldgefühle erzeugt, psychischen Druck auslöst. Da fühlt sich dann jemand nicht akzeptiert, nicht angenommen, nicht verstanden, gestört, fortlaufend gestört. Könnte es sein, dass gerade diese entwaffnende Bodenständigkeit unseres Opfers, die uns sagen lässt, da könne doch nun wirklich kein Motiv sein, Anlass gewesen wäre, um zum Ärgernis für irgend einen Menschen zu werden? Hatte sie Verständnis für die Eigenheiten anderer Menschen, war sie tolerant gegenüber Menschen, die abwichen von ihren Lebensstilen, Werten und Lebensentwürfen, und die sie vielleicht aus ihrer Jugendzeit so nicht kannte? Auch diese Frau kam aus der katholischen Gemeindearbeit, hat mit ihren Eltern das Wandern im Eifelverein kennengelernt, hat das ihr Leben lang für sich beibehalten, an ihre eigenen Kinder weitergegeben, die als Messdiener oder bei den Pfadfindern aktiv waren, aber wie offen war sie für andere Lebensweisen, wie flexibel war diese Frau? Hat sie in den letzten 30 Jahren auch noch neue Vorlieben und Prioritäten entwickelt, Vorlieben anderer übernommen? Ich sehe viel Rückzug bei ihr. Auf Hobbies, die nicht auf Gemeinschaft und Geselligkeit hindeuten, sondern auf Solo, eher eine Abkehr vom Gemeinsamen: Einsame Wanderungen im Hunsrück, einsame Handarbeiten, Rätsel lösen, Bücher lesen, keine Bekanntschaften oder Freundinnen am Hahn oder im Hunsrück, keine intensive telefonische Kommunikation mit der Familie oder Freundinnen. „Share“ ist das Zauberwort der modernen Internetgemeinde; was hat sie „geteilt“ mit anderen?
War das ein Rückzug, ein Protest, eine Demonstration? Oder ruhte sie fröhlich, lieb und zufrieden in sich? Ich kann diese Fragen nicht beantworten, aber ich stelle sie mir zunehmend.