PROFILING - DIE FALLANALYSE

ÖFFENTLICHE DISKUSSION
Benutzeravatar
talida
Beiträge: 13453
Registriert: Donnerstag, 01. August 2013, 12:24:50
Kronen: Ƹ̵̡Ӝ̵̨̄Ʒ Ƹ̵̡Ӝ̵̨̄Ʒ Ƹ̵̡Ӝ̵̨̄Ʒ Ƹ̵̡Ӝ̵̨̄Ʒ Ƹ̵̡Ӝ̵̨̄Ʒ Ƹ̵̡Ӝ̵̨̄Ʒ Ƹ̵̡Ӝ̵̨̄Ʒ Ƹ̵̡Ӝ̵̨̄Ʒ Ƹ̵̡Ӝ̵̨̄Ʒ Ƹ̵̡Ӝ̵̨̄Ʒ Ƹ̵̡Ӝ̵̨̄Ʒ Ƹ̵̡Ӝ̵̨̄Ʒ Ƹ̵̡Ӝ̵̨̄Ʒ
(ausgezeichnet mit dreizehn Goldenen Kronen für 13.000 Beiträge)
Sterne: ★ ★ ★ ★ ★ ★ ★
(ausgezeichnet mit sieben Goldenen Sternen für drei korrekte Antworten)

PROFILING - DIE FALLANALYSE

Ungelesener Beitrag von talida »

Hier kann alles Wissenswerte über Profiling/Fallanalysen diskutiert werden.
Was man ernst meint, sagt man am besten im Spaß - Wilhelm Busch
Benutzeravatar
talida
Beiträge: 13453
Registriert: Donnerstag, 01. August 2013, 12:24:50
Kronen: Ƹ̵̡Ӝ̵̨̄Ʒ Ƹ̵̡Ӝ̵̨̄Ʒ Ƹ̵̡Ӝ̵̨̄Ʒ Ƹ̵̡Ӝ̵̨̄Ʒ Ƹ̵̡Ӝ̵̨̄Ʒ Ƹ̵̡Ӝ̵̨̄Ʒ Ƹ̵̡Ӝ̵̨̄Ʒ Ƹ̵̡Ӝ̵̨̄Ʒ Ƹ̵̡Ӝ̵̨̄Ʒ Ƹ̵̡Ӝ̵̨̄Ʒ Ƹ̵̡Ӝ̵̨̄Ʒ Ƹ̵̡Ӝ̵̨̄Ʒ Ƹ̵̡Ӝ̵̨̄Ʒ
(ausgezeichnet mit dreizehn Goldenen Kronen für 13.000 Beiträge)
Sterne: ★ ★ ★ ★ ★ ★ ★
(ausgezeichnet mit sieben Goldenen Sternen für drei korrekte Antworten)

Re: PROFILING die FALLANALYSE

Ungelesener Beitrag von talida »

Zu den bekanntesten deutschen Profilern zählen Axel Petermann und Alexander Horn.

Einige interessante Artikel dazu:

Axel Petermann
Eine Leiche wird gefunden.
Verletzungen am Körper weisen darauf hin, dass die Frau vermutlich erwürgt wurde.
Ihr Körper ist verstümmelt.
Während der Obduktion finden Rechtsmediziner Spuren eines Schlafmittels.

http://www.planet-wissen.de/gesellschaf ... ur100.html

Profiler Alexander Horn Der Mann, der den "Maskenmann" erkannte


Alexander Horn hat den „Maskenmann“ ermittelt und als erster den rechtsextremen Hintergrund der NSU-Morde erkannt.

Als brillianter Spürhund will der erfahrene Profiler dennoch nicht gelten. von

http://www.tagesspiegel.de/weltspiegel/ ... 74870.html
Was man ernst meint, sagt man am besten im Spaß - Wilhelm Busch
Benutzeravatar
talida
Beiträge: 13453
Registriert: Donnerstag, 01. August 2013, 12:24:50
Kronen: Ƹ̵̡Ӝ̵̨̄Ʒ Ƹ̵̡Ӝ̵̨̄Ʒ Ƹ̵̡Ӝ̵̨̄Ʒ Ƹ̵̡Ӝ̵̨̄Ʒ Ƹ̵̡Ӝ̵̨̄Ʒ Ƹ̵̡Ӝ̵̨̄Ʒ Ƹ̵̡Ӝ̵̨̄Ʒ Ƹ̵̡Ӝ̵̨̄Ʒ Ƹ̵̡Ӝ̵̨̄Ʒ Ƹ̵̡Ӝ̵̨̄Ʒ Ƹ̵̡Ӝ̵̨̄Ʒ Ƹ̵̡Ӝ̵̨̄Ʒ Ƹ̵̡Ӝ̵̨̄Ʒ
(ausgezeichnet mit dreizehn Goldenen Kronen für 13.000 Beiträge)
Sterne: ★ ★ ★ ★ ★ ★ ★
(ausgezeichnet mit sieben Goldenen Sternen für drei korrekte Antworten)

Re: PROFILING die FALLANALYSE

Ungelesener Beitrag von talida »

Protokoll einer Fallanalyse

Protokoll einer Fallanalyse des Landeskriminalamtes Mainz
Untersucht wird der Raubmord an einer Rentnerin


http://www.kriminalpolizei.de/ausgaben/ ... alyse.html
Was man ernst meint, sagt man am besten im Spaß - Wilhelm Busch
Benutzeravatar
U.s.1 883
Beiträge: 1624
Registriert: Freitag, 01. März 2019, 19:17:28
Kronen: Ƹ̵̡Ӝ̵̨̄Ʒ
(ausgezeichnet mit einer Goldenen Krone für 1000 Beiträge)
Sterne:

Re: PROFILING - DIE FALLANALYSE

Ungelesener Beitrag von U.s.1 883 »

«Was ist die Matrix?»

Alice im digitalen Wunderland - Oder: «Was ist die Matrix?»17 Niklas Luhmann schreibt in «Die Gesellschaft der Gesellschaft», dass der Begriff der Postmoderne kontrovers sei, da er sich weder eindeutig von dem der Moderne abgrenzen lasse noch mit einer klaren Definition zu belegen sei (vgl. Luhmann 1998, 1143ff.). Eine gesellschaftliche Selbstbeschreibung über Postmoderne ließe sich eventuell damit rechtfertigen, dass das «Ende der Großen Erzählungen» erreicht sei. Mit dieser Aussage bezieht sich Luhmann auf Lyotard, der sich unter anderem mit der Frage beschäftigt hat, inwieweit die «großen Erzählungen» in Philosophie, Geschichte etc. politische und gesellschaftliche «Realität» konstituieren - sprich legitimieren, weshalb er diese Narrationen auch als «legitimierende Erzählungen» bezeichnet (Lyotard in: Engelmann 1999, 49-53).18 Angesichts heutiger spätkapitalistischer Entwicklungen wie der Globalisierung und einer international zu beobachtenden restriktiven Inneren Sicherheitspolitik scheint Luhmanns Feststellung eines Endes dieser Macht legitimierenden Erzählungen vorschnell gewesen zu sein bzw. zu kurz zu greifen.

Was ist Postmoderne? Diese Frage kann im Rahmen unseres kleinen Streifzuges nicht geklärt werden (andere haben dies auf mehreren Hundert Seiten nicht vermocht), aber wir können einen Augenblick verharren und uns einigen Aspekten widmen, die dem Kern des Postmodernen vielleicht doch sehr nahe kommen.

Der Begriff der Postmoderne lässt sich am ehesten mit einer Matrix vergleichen - mit einem Koordinatennetz, das in verschiedene Figuren und Gestalten transformiert werden kann. Das heißt, wir visualisieren ein mehrdimensionales Projektiönsraster, das mit unterschiedlichen Vorstellungen des Postmodernen versehen und gleichzeitig im Raum von diversen Perspektiven aus beobachtet werden kann. Diese Mehidimensionalität von Raum und Zeit ist möglicherweise das entscheidende Merkmal postmoderner Kultur.


Die Auflösung des Raum-Zeit-Kontinuums ist primär eine Folgeerscheinung der sich seit Mitte des 20. Jahrhunderts rasant entwickelnden Multimedialität. Dies gilt insbesondere für elektronische Bildschirmmedien wie Fernsehen, Video und Computer sowie für die Kinematographie, die eine Allgegenwart an sprachlichen und visuellen Informationen mit sich bringen. Vermittelt werden diese über digitalisierte Zeichen, die nahezu beliebig wiederholt, kombiniert, verändert und in unterschiedliche Kontexte überstellt werden können, ohne dass eine (gleichzeitige) Anwesenheit von Produzent und Rezipient nötig ist.

Ein Beispiel hierfür ist die digitale Bearbeitung einzelner Bilder oder Bildsequenzen (wie etwa in dem Film «Forrest Gump», in dem der Schauspieler Tom Hanks in historische Filmaufnahmen eingefügt wurde). Mittlerweile ist es möglich, rein virtuelle - computergenerierte - Erzählungen zu erschaffen, wie die beiden jüngsten Filmbeispiele «Shrek» oder «Final Fantasy» zeigen.

Im eingeschränkten Sinne ist auch Literatur reproduzierbar und multireferenziell, da sie ebenfalls mittels eines repräsentativen Zeichenkodes, nämlich dem der Schrift, bewerkstelligt wird. Das Besondere an den elektronischen und digitalen Medien ist jedoch die Geschwindigkeit und das Ausmaß der Informationsverbreitung - zwei Faktoren, die mit einer sich ständig potenzierenden Präsenz medialer Darstellungen einhergehen. Sobald eine fiktionale oder nichtfiktionale Erzählung in die Massenmedien eintritt, hat sie sich aufgrund der Fülle ihrer medialen Präsentationen schon wieder selbst überholt und verblasst.19

Dieser Bedeutungsverlust ist jeder medialen Erzählung immanent - sei es die Meldung über eine Naturkatastrophe oder ein politisches Ereignis, die Selbstinszenierung einer einzelnen Person oder ein spezifisches Erzählthema wie Serienmord. Ein Kreislauf entsteht: Der Beginn der einen Geschichte markiert zugleich ihr Ende und ist der Anfang einer ähnlichen oder neuen Geschichte. Die Massenmedien bestehen aus einer unübersichtlichen Vielzahl dieser Kreisläufe, denn es werden stets mehrere Geschichten gleichzeitig erzählt - die sowohl aufeinander als auch auf vorhergehende Erzählungen verweisen.20

Erzähltraditionen -im Sinne von wiederkehrenden Figuren, Motiven und Themen - gibt es zwar seit Jahrhunderten, aber Multimedialität und Digitalität fördern die Vernetzung der Geschichten untereinander sowie ihre Abrufbarkeit im alltäglichen und massenmedialen Gebrauch, All dies hat zur Konsequenz, dass Narrationen einer ständigen Erneuerung bedürfen. Auf dem Sektor individueller Selbstdarstellungen wird dieser Prozess als «Re-Modeüng» bezeichnet (vgl, etwa den Imagewandel von Madonna, Metallica oder U2 -Bcssing u.a. 1999,127ff,).

Im Bereich fiktionaler Erzählungen hat diese Entwicklung in vielen Genres dazu geführt, dass sich die narrativen Regeln geändert haben, um Authentizität und Sichtbarkeit des Erzählten zu wahren — und sicherzustellen, dass die Narrationen sich nicht im Zuge ihrer permanenten Reproduktion selbst als Konstrukte entlarven. So werden verstärkt Stilmittel wie Fragmentierung, Selbst-/Metareferenzia-lität (Ironie, Selbstbespiegelung etc.), Brechung der Erzählperspektive oder Aufhebung der chronologischen Handlungsabfolge verwendet (Bsp.: «Pulp Fiction», «Bram Stoker's Dracuia» u.a.). Diese sind nicht neu, aber sie treten gehäuft auf und sind nicht länger nur der Avantgarde vorbehalten, sondern längst in den Mainstream übergegangen. AJI dies ist verschiedentlich thematisiert und als «postmodern» deklariert worden, doch die mit der Entgrenzung des Raum-Zeit-Gefüges einhergehenden Verschiebungen in der Konstruktion und Wahrnehmung der durch Medien repräsentierten Welt markieren den eigentlichen Zugang zu einer postmodernen Denkweise.21

Und dieser Prozess bedeutet in erster Linie eine Überlagerung unzähliger repräsentierender, abstrakter Zeichenebenen - ein Konglomerat aus scheinbar unendlich vielen Rollen-, Kommunikations-, Inszenierungs- und Identifizierungsmustern, die letztlich alles ermöglichen-nur keine Individualität. Sobald ich eines oder mehrere von ihnen auswähle, um mir eine Identität zu schaffen, löse ich mich bereits wieder in der Masse derer auf, die ebenfalls auf sie rekurrieren. Es folgt der sich ständig wiederholende Eintritt des Individuums in das Zeichen (z.B. durch Gebrauch spezifisch kodierter Musik- und Kleidungsstile). Potentielle Folgen sind Desorientierung, das Festhalten an einer schönen Scheinwelt von Pseudoidentitäten, die Kapitulation in der Menge oder die Ausblendung von Zeichenebenen und eine Reduzierung der Kommunikation. Die Postmoderne ist das Ende der Subkultur (Punk u.a.). Ein möglicher Zufluchtsort sind Szenarien extremer Gewalt am eigenen oder fremden Körper.22

17 In Anlehnung an den Science-Fiction-Film «The Matrix» von den Brüdern WachowsJd (1999), in dem es um eine virtuelle Scheinwelt geht, mit Hilfe derer das Bewusstsein der Menschen durch die Maschinen manipuliert wird. Der Film ist angereichert mit zahlreichen Verweisen und Zitaren - u.a. auf die Erzählung «Alice
im Wunderland».


18 Der Begriff «Narration» steht in diesem Beitrag synonym fur «Erzählung» und impliziert die mittels sprachlicher oder anderer Zeichen bewerkstelligte Darstellung eines realen oder fiktionalen Handlungs-gefüges (Ereignisses) nach bestimmten narrativcn Regeln (Perspekrivierung, Strukturierung, Verknüpfung und zeitliche Zuordnung einzelner Handlungselemente etc.). Ursprünglich ist der Terminus verknüpft mit der Narrativik, der Erzählforschung, die hier nicht näher berücksichtigt werden soll.


19 Im Fall von BSE verlor sich beispielsweise der Nachrichtenweit in der Masse von Meldungen und Berichten über neu erkrankte Tiere, vernichtete Viehbestände und behördliche Inkompetenz. Die mit diesem Phänomen einhergehenden Probleme im landwirtschaftlichen Bereich blieben indes bestehen. Sie entzogen sich lediglich dem Blick der massenmedial orientierten Öffentlichkeit.

20 Die Nachricht vom Verschwinden eines Kindes ist z.B. oft gekoppelt an das Delikt der Kindstötung, an frühere, «vergleichbare» Fälle und an stereotype Konzepte wie das des «Triebtäters» oder «Kinderschänders».


21 Aus diesem Grund ist die Erlangung von «Medienkompetenz» heutzutage ein wichtiger Aspekt der Sozialisation. Dieser Begriff ist dehnbar und diffus, meint aber im Wesentlichen das Erlemen des Umgangs
mit massenmedialen Erzählstrategien und Strukturen.
22 Zur Postmoderne: Luhmann 1998; Engelmann 1999; Rost/Sandbothe 1998;Stratron 1990.
Die Illusion der Demokratie lebt von der Vertuschung staatlicher Rechtsbrüche, und leider verliert sich selbst die Standfestigkeit ursprünglich integerer Persönlichkeiten allzu oft in den Sümpfen der Politik.
Widasedumi
Beiträge: 8966
Registriert: Donnerstag, 12. März 2020, 10:04:00
Kronen: ♔♔♔♔♔♔♔♔
(ausgezeichnet mit acht Goldenen Kronen für 8000 Beiträge)
Sterne:

Re: PROFILING - DIE FALLANALYSE

Ungelesener Beitrag von Widasedumi »

Wow, U.s.1 883, einen tollen Beitrag hast du hier reingestellt, wofür ich danke:
U.s.1 883 hat geschrieben: Dienstag, 24. November 2020, 17:10:47 «Was ist die Matrix?»
Ich muss ihn mir in Ruhe zu Gemüte führen, denn von dem Soziologen Niklas Luhmann weiß ich ein wenig, aber nicht allzu viel. Er hatte mal mit dem Soziologen Jürgen Habermas einen gesellschaftspolitischen Streitdiskus, auf hohem Niveau. Habe mir auch das Buch dazu gekauft, aber nur mal reingelesen, dann hatte ich wegen des hohen Niveaus, bedingt durch sehr abstrakte Theorien, keine Motivation mehr zum Lesen.

Aber diesen Beitrag werde ich versuchen zu erschließen, ob er für die Fallanalyse erfolgreich ist.

Ich bin nur hierher gekommen, weil der Nachbarthread nicht zugänglich ist. "WARUM UND WANN WERDEN MENSCHEN GRAUSAM?
INTERNE DISKUSSION". Hier gibt es nur einen Beitrag, der von 2018 ist. Aber ich und vermutlich andere auch kommen da nicht rein.
Es ist ein interessantes Thema, zu dem sicher viele User etwas schreiben könnten.


So hat es wenigstens den Zweck gehabt, dass ich mal wieder auf Niklas Luhmann gestoßen bin.
Irrtumsvorbehalt
Widasedumi
Beiträge: 8966
Registriert: Donnerstag, 12. März 2020, 10:04:00
Kronen: ♔♔♔♔♔♔♔♔
(ausgezeichnet mit acht Goldenen Kronen für 8000 Beiträge)
Sterne:

Re: PROFILING - DIE FALLANALYSE

Ungelesener Beitrag von Widasedumi »

Kein leichtes Thema! Es ist die Frage, woran sich ein Individuum festmachen kann, worin es seinen Halt findet? Was ist Realität und was ist Fiktion? Alles verändert sich sehr schnell. Wo ist ein fester unerschuetterlicher Grund. Dazu muss ich mich auf eine Metaebene begeben und muss mich fragen, woher ich komme, was der Sinn meines Lebens ist und wohin ich einmal gehe? Dann bekomme ich Boden unter die Füße. Leider gibt mir diese Matrix im Artikel keine Antwort dazu. Sie ist eher ein Vorhang, der das Gute, das Wahre und das Schöne verdeckt.
Irrtumsvorbehalt
Benutzeravatar
U.s.1 883
Beiträge: 1624
Registriert: Freitag, 01. März 2019, 19:17:28
Kronen: Ƹ̵̡Ӝ̵̨̄Ʒ
(ausgezeichnet mit einer Goldenen Krone für 1000 Beiträge)
Sterne:

Re: PROFILING - DIE FALLANALYSE

Ungelesener Beitrag von U.s.1 883 »

von Widasedumi » Samstag, 20. Februar 2021, 09:22:20
......aber wir können einen Augenblick verharren und uns einigen Aspekten widmen, die dem Kern des Postmodernen vielleicht doch sehr nahe kommen.

Ich persönlich bin ja ein Freund der Ahnung.
Die Illusion der Demokratie lebt von der Vertuschung staatlicher Rechtsbrüche, und leider verliert sich selbst die Standfestigkeit ursprünglich integerer Persönlichkeiten allzu oft in den Sümpfen der Politik.
Widasedumi
Beiträge: 8966
Registriert: Donnerstag, 12. März 2020, 10:04:00
Kronen: ♔♔♔♔♔♔♔♔
(ausgezeichnet mit acht Goldenen Kronen für 8000 Beiträge)
Sterne:

Re: PROFILING - DIE FALLANALYSE

Ungelesener Beitrag von Widasedumi »

U.s.1 883 hat geschrieben: Samstag, 20. Februar 2021, 16:40:14 Ich persönlich bin ja ein Freund der Ahnung.
Ahnung kommt von innen. Intuition kommt auch von innen. Selbstreflexion hat was mit meinem Inneren zu tun. Diese Fähigkeiten entwickelt man, wenn sich ein Individuum zeitweise von den Außeneinflüssen abschotten kann. Schon die Moderne, nicht nur die Postmoderne war eine außengesteuerte Gesellschaft. Man orientierte sich, was andere gut finden. Man orientierte sie immer weniger an dem überzeitlich Guten, Wahren und Schönen. Z.B. Egoismus ist früher eher negativ bewertet gewesen. In der Moderne, wo es um Ellbogen geht, da wird der Egoismus nicht mehr so negativ gesehen. Oder mit der Ästhetik ist es auch so eine Sache. Früher hat man neue, unbeschädigte, saubere Sachen als schön bewertet. In der Moderne sah man Jeans im Verkaufsangebot, die wie getragen aussahen. Heute, ganz besonders in der Postmoderne, kriegt man zerrissene Hosen angeboten. Es ist also eine Umkehrung der Werte von früher: das Gute, das Wahre und das Schöne. Die Inhalte von Werten geraten in ihr Gegenteil: Zerrissenes und Zerstörtes soll schön sein. Wahrheit wird relativiert, indem sie dem Mehrheitsvotum untergeordnet wird. Eine Wahrheit an sich gibt es vielleicht nur noch als Banales, dass das Leben endlich ist. Vielleicht gibt es bald einen Impfstoff, dass auch diese Wahrheit nicht mehr gilt? Und das dritte, das Gute, das gibt es vielleicht noch im Privaten. Aber in der Gesellschaft zählen andere Verhaltensweisen.

Ich persönlich reflektiere solche Veränderungen kritisch. Ich kann keinen Vorteil darin sehen und bewerte daher postmoderne Beeinflussung für mich als Zeitverschwendung. Ich weiß, dass es das gibt, ich kann es einordnen, aber ich unterwerfe mich nicht diesen Strömungen, so weit es geht. Es geht nicht immer. Zum Beispiel habe ich mich lange gegen Handys gesträubt. Ich will nicht ständig erreichbar sein. Als aber alle Telefonzellen abgeschafft waren, habe ich mir auch dieses Medium zugelegt. Doch ich mache nur prepaid, und ich habe keinen Vertrag. Unterwegs brauche ich kein Internet. Da lasse ich mir gerne einiges durch den Kopf gehen. Da bin ich introvertiert im Gegensatz zur Extrovertiertheit, wo man ständig Fremdeinflüssen ausgesetzt ist.

Und wenn ich viel Zeit nutze, um nachzudenken, dann kommen tatsächlich Ahnungen oder man hat Intuitionen. Oft denke ich über Probleme nach. Ich will nicht unbedingt eine Lösung finden, sondern vertiefe mich nur in den Sachverhalt. Wenn meine Gedanken gar nicht mehr aktiv sind, dann kommt auf einmal eine ganz andere Sicht zutage, die oft zu einer Lösung führt.

Die Postmoderne, mit ihrer künstlichen Intelligenz und ihren Robotern kann technische Abläufe damit regeln. Aber das geniale Werk eines Menschen kann man nicht kopieren. Auch die Intuition von Tieren ist ein Wunderwerk. Dieses alles zu bewundern und wertzuschätzen, bevorzuge ich allemale gegenüber den wirren Horrorfilmen der Postmoderne. Sie sind ver-rückt, weil die Werte umgedreht wurden. Wenn ich nur an Lady Gaga denke, oder an den Weihnachtsbaum, der umgekehrt von der Decke hängt. Tut mir leid, das ist nichts für mich.

Aber die Ahnung, dass außengesteuerte Menschen dieses alles gut finden, lässt mich erschauern, denn die Wahrheit ist ja zu einer Sache der Mehrheit geworden. Zum Schluss werden andere mich persönlich für verrückt erklären, weil ich sie für verrückt halte. Ich kaufe doch keine Hose, die einem zerrissenen Lumpen gleicht. Wenn ich das bescheuert finde, dann gelte ich eben als verrückt. Mal schaun, ob Corona die Werte wieder in eine überzeitliche Gültigkeit zurechtrückt, oder ob die Verrücktheit durch Corona noch zunimmt?

Das ist die Frage, die ich in meinem Innern bewege. Die Sinne vieler Menschen wurden durch Corona vom Gefühl der Angst überlagert. In der Angst wird die Lust nach Verrücktem, wie dem umgekehrten Weihnachtsbaum, wahrscheinlich schwächer werden. In der Angst wird der Mensch evtl. auch unkritischer. Man glaubt jedem, der einem die Erlösung von einer Gefahr verspricht. Meine Ahnung hierzu ist leider negativ. Ich bedaure diese Menschen, die aus Angst heraus unkritisch sind. Mit Angst kann man ganze Gesellschaften steuern. Wo die Reise hingehen wird? Hier habe ich leider noch keine Ahnung. Aber meine Intuition ist momentan nicht gerade euphorisch. Damit kehre ich an den Anfang zurück, nämlich zu der menschlichen Eigenschaft der Ahnung, die du liebst.
Irrtumsvorbehalt
Yanell
Beiträge: 2508
Registriert: Mittwoch, 05. Juli 2017, 17:34:43
Kronen: Ƹ̵̡Ӝ̵̨̄Ʒ Ƹ̵̡Ӝ̵̨̄Ʒ
(ausgezeichnet mit zwei Goldenen Kronen für 2000 Beiträge)
Sterne:

Re: PROFILING - DIE FALLANALYSE

Ungelesener Beitrag von Yanell »

Kommt Ahnung nicht von den Rückbindungen, an die Ahnen, die über die Nabelschnur, bzw. die Mutter, Großmutter usw. geht? Also über die Lebenden und die bereits (lange) Verstorbenen? Frag nur*
No one actually thinks all men.
Just too many men.
Just enough men to be afraid.
Just enough men that all women have experienced it.
Just enough men to make it a social problem not a personal one.
Widasedumi
Beiträge: 8966
Registriert: Donnerstag, 12. März 2020, 10:04:00
Kronen: ♔♔♔♔♔♔♔♔
(ausgezeichnet mit acht Goldenen Kronen für 8000 Beiträge)
Sterne:

Re: PROFILING - DIE FALLANALYSE

Ungelesener Beitrag von Widasedumi »

Yanell hat geschrieben: Sonntag, 21. Februar 2021, 17:26:51 Kommt Ahnung nicht von den Rückbindungen, an die Ahnen, die über die Nabelschnur, bzw. die Mutter, Großmutter usw. geht? Also über die Lebenden und die bereits (lange) Verstorbenen? Frag nur
Vom Wortstamm her könnte dein Gedanke durchaus Sinn machen. Auch in diesem Fall wäre die Eigenschaft "Ahnung" eine persönlichkeitsimmanente Entität, deren Existenz nicht auf externen Beeinflussungsimpulsen beruht, wiewohl aber externe Beeinflussungsimpulse unsere Gefühle triggern. Ich bin aber kein Experte, inwieweit sich Wechselwirkungen zwischen Anlagen und Umwelt nachhaltig niederschlagen. Es gibt in totalitären Staaten in Internierungsanstalten ja eine Art "Gehirnwaschung". Was da gemacht wird und wie es gemacht wird, weiß ich nicht.

Das Phänomen "Ahnung" gibt es. Ob es durch Ideologiestrategien abgetötet werden kann, bezweifle ich. Es spielt auch in der Literatur oft eine Rolle. Dieses Phänomen ist nicht objektivierbar. Somit kann man es auch nicht wissenschaftlich untersuchen. Es gibt auch im Tierreich merkwürdiges Tierverhalten vor Katastrophen wie einem Erdbeben, habe ich mal gelesen. Kurzum, ich denke, dass der Mensch Anlagen mitbekommt, die verhindern, dass man ihn zu einer reinen Verhaltensmaschine degradieren kann.
Irrtumsvorbehalt
Widasedumi
Beiträge: 8966
Registriert: Donnerstag, 12. März 2020, 10:04:00
Kronen: ♔♔♔♔♔♔♔♔
(ausgezeichnet mit acht Goldenen Kronen für 8000 Beiträge)
Sterne:

Re: PROFILING - DIE FALLANALYSE

Ungelesener Beitrag von Widasedumi »

Noch ein Gedanke zum Begriff "Ahnung" in Verbindung zu den Ahnen.

Wir erhielten von unseren Vorfahren Deutungsmuster zu unserer Umwelt, zu Gefahren, zur Nahrung, zu Menschen, zur Arbeit, zur Politik, zur Erde, zur Welt und zu vielem mehr, besonders im Prozess der Sprachvermittlung. Wir haben also zuerst einmal die Erklärungen der Vorfahren übernommen, auch wenn wir sie mit der Zeit etwas modifiziert haben. Wir erlebten unsere Eltern und Großeltern oder Verwandten, wie sie Situationen einschätzten und wo sie Gefahren witterten. Solche bedeutsamen oder bewährten Erfahrungen gruben sich in unser Gedächtnis ein und sie haben eben etwas mit unseren Ahnen zu tun, weil das zum Teil auch auf eine lange Generationenfolge zurückgehen kann. Wenn uns nun heute vergleichbare Lebenslagen oder Situationen betreffen, dann haben wir Erfahrungen unserer Ahnen hierzu abgespeichert. Auf diese können wir zurückgreifen und verfügen daher über eine Zukunftshypothese in unserer Lage, welche wir in den Begriff "Ahnung" kleiden.

Es muss aber nicht nur uns selbst als Person betreffen. Es können vergleichbare politische Lagen sein, oder es kann sich um das Verhalten anderer Menschen handeln usw.
Irrtumsvorbehalt
Benutzeravatar
U.s.1 883
Beiträge: 1624
Registriert: Freitag, 01. März 2019, 19:17:28
Kronen: Ƹ̵̡Ӝ̵̨̄Ʒ
(ausgezeichnet mit einer Goldenen Krone für 1000 Beiträge)
Sterne:

Re: PROFILING - DIE FALLANALYSE

Ungelesener Beitrag von U.s.1 883 »

Keppel konzipiert den Killer; den Produzenten von Leichen, Tatorten und dump sites, als Urheber von Werken, in denen sich der Kern der Persönlichkeit offenbart. Nicht das Äußere des Killers (sein Aussehen, seine Verhaltensweisen) trägt die Zeichen für die Abweichung, sondern die sorgfältig arrangierten Leichen und die inszenierten Tatorte. Solange der Killer abwesend ist (und dies ist er, solange er Killer ist), fesseln seine Hinterlassenschaften sowie die Orte, an denen er tätig war, den Blick des „Ermittlers“, der hier die Zeichen entdeckt, die den Abwesenden repräsentieren. Der „Ermittler“ ordnet diese Zeichen und <entdeckt> den Typus des «organisiertem Killers, und wenn er die Zeichen nicht zu ordnen vermag, hat er dessen Gegenteil - den «desorganisiertem Killer Immer schreibt er die Spuren, die er entdeckt, einer Ent-Äußerung, dem Manifest-Werden von Persönlichkeit und Phantasie im Handeln und seinen Ergebnissen zu. Der Signature - Killer ist ein Künstler, dessen Werke nur der erfahrene „Ermittler“ (mit seinen Erfahrungen und Initiations-Erlebnisse) als <Wahrheit> entschlüsseln kann.

aus:

Ermittlungstaktische Methoden
Die Illusion der Demokratie lebt von der Vertuschung staatlicher Rechtsbrüche, und leider verliert sich selbst die Standfestigkeit ursprünglich integerer Persönlichkeiten allzu oft in den Sümpfen der Politik.
Benutzeravatar
U.s.1 883
Beiträge: 1624
Registriert: Freitag, 01. März 2019, 19:17:28
Kronen: Ƹ̵̡Ӝ̵̨̄Ʒ
(ausgezeichnet mit einer Goldenen Krone für 1000 Beiträge)
Sterne:

Re: PROFILING - DIE FALLANALYSE

Ungelesener Beitrag von U.s.1 883 »

Sprache a.pdf
Die Kurznachricht
(84.14 KiB) 252-mal heruntergeladen
Die Kurznachricht

kleiner Abriss

Forensische Linguistik
Anwendung quantitativer Methoden der Sprachstatistik und philolog.-hermeneut. Interpretationsverfahren in der Kriminalistik v.a. zur Identifizierung von Sprechern durch Stimmanalysen ( Forensische Phonetik) bzw. zum Nachweis von Autorschaften bei geschriebenen Texten z.B. bei Erpresserschreiben, Bekennerbriefen nach Attentaten, anonymen Verleumdungen u. dgl.; Graphometrie. In der kriminaltechn. Abteilung des Bundeskriminalamts wird seit Ende der 70e Jahre ein computerlesbares Corpus (Kriminaltechnisches Informationssystem Texte, Abk. KISTE) solcher Texte erstellt. Die Analysen sollen Aufschluß geben über regionale und soziale Herkunft eines Verfassers, seine Schulbildung, seine berufl. Orientierung u.ä. Sie werden sowohl bei der Fahndung als auch bei der Beweisführung vor Gericht verwendet. Es ist umstritten, ob solche Analysen tatsächl. einen »sprachl. Fingerabdruck« oder einen »philolog. Steckbrief« hervorbringen können; insbesondere Stilanalysen als Beweismittel werden vielfach als ungenau, impressionist. und – im Hinblick auf die Konsequenzen – gefährlich abgelehnt. In Deutschland wird f.L. zu einem beträchtl. Teil von privaten Instituten betrieben.

Lit. H. Kniffka (Hg.), Texte zu Theorie und Praxis forens. Ling. Tübingen 1990. – G. Grewendorf (Hg.), Rechtskultur als Sprachkultur. Zur forens. Funktion der Sprachanalyse. Ffm. 1992. G
[Lexikon Sprache: Forensische Linguistik. Metzler Lexikon Sprache, S. 3049
(vgl. MLSpr, S. 212 ff.) (c) J.B. Metzler Verlag ]

Die Illusion der Demokratie lebt von der Vertuschung staatlicher Rechtsbrüche, und leider verliert sich selbst die Standfestigkeit ursprünglich integerer Persönlichkeiten allzu oft in den Sümpfen der Politik.
Benutzeravatar
U.s.1 883
Beiträge: 1624
Registriert: Freitag, 01. März 2019, 19:17:28
Kronen: Ƹ̵̡Ӝ̵̨̄Ʒ
(ausgezeichnet mit einer Goldenen Krone für 1000 Beiträge)
Sterne:

Re: PROFILING - DIE FALLANALYSE

Ungelesener Beitrag von U.s.1 883 »

Abriß:

© Robert Weihmann, Kriminaltechnik – Expertise, 14. 1. 2009
(206 Seiten) 10

3.1 Grundlagen
Die Kriminaltechnik28 ist Teil der Kriminalistik. Sie wurde im Wesentlichen durch Hans Groß begründet,29 der nicht nur die wissenschaftlichen Grundla-gen schuf, sondern auch ganz praktische Neuerungen entwickelte, z. B. den heute noch benutzten „Tatortkoffer", den er „Commissionstasche" nannte.30

3.1.1 Beweismittel
Beweismittel sollen das Gericht von einer bestimmten Tatsache überzeugen. Sie müssen rechtlich zulässig sein und in das Hauptverfahren eingebracht werden.31 Sie unterliegen der freien Beweiswürdigung durch das Gericht.32 Insofern ist es weniger wichtig, ob der Kriminalist das Beweismittel als über-zeugend ansieht, sondern es kommt allein auf die Beurteilung durch das Ge-richt an.

3.1.1.1 Abgrenzung von Sachbeweis und Personalbeweis
Dem Sachbeweis wird häufig ein höherer Stellenwert eingeräumt als dem Per-sonalbeweis. Dies entspricht jedoch nicht den tatsächlichen Gegebenheiten. Obwohl der Sachbeweis objektive Feststellungen trifft, hat er nur scheinbare Vorteile. Das gilt auch unter dem Gesichtspunkt der heute deutlich verbesser-ten und erweiterten Untersuchungsmethoden und Untersuchungsmöglichkei-ten, denn das Beweisthema kann nur über den Sachverständigen in das Ge-richtsverfahren eingebracht werden und unterliegt somit ebenso menschlichen Unzulänglichkeiten, die sich in Fehlbeurteilungen zeigen können. 33
Es darf auch nicht übersehen werden, dass der Sachbeweis nur naturwissen-schaftliche Feststellungen treffen und keine juristischen oder gar philosophi-schen Fragen beantworten kann. Das schon in historischen Lehrbüchern dar-gestellte Beispiel von der Leiche und dem daneben knienden Mann, an dessen Kleidung das Blut der Leiche haftet und dessen Fingerabdrücke auf dem Tat-messer gefunden werden zeigt, dass trotzdem die Täterfrage nur über den Per-sonalbeweis beantwortet werden kann. Die Spuren geben nämlich keine Aus-kunft darüber, ob der Knieende der Täter oder ein Helfender ist. Hier ist die weitere Tätigkeit des Kriminalisten gefragt, der eine solche Person zunächst wertneutral als „Spurenleger" bezeichnet. Allein in diesem Sinne haben die Kriminaltechnik und der Sachbeweis ihre Bedeutung.34

Selbst wenn aufgrund der Lage und der Individualität der Spuren kein Zweifel an der Täterschaft besteht, so ist damit noch nicht geklärt, welches Motiv der Täter hatte. Handelt es sich bei ein und derselben Tatfolge z. B. um einen Mord, einen Totschlag oder um eine Körperverletzung mit Todesfolge. Die Spuren allein können auch nicht die Frage beantworten, ob Rechtfertigungs-gründe oder Schuldausschließungsgründe vorliegen. Es müssen somit weitere Tatsachen hinzukommen.
Deshalb haben das Bundesverfassungsgericht35 und der Bundesgerichtshof 36 klargestellt, dass die Aufklärung eines Straftatbestandes im Wesentlichen auf dem Personalbeweis beruht. Der Sachbeweis muss deshalb immer im Zusam-menhang mit den Gesamtumständen der Tat und den übrigen Beweisen gese-hen werden.

Scheinbar gibt es davon eine Ausnahme, nämlich die Feststellung des Blutal-koholgehaltes beim Führen von Fahrzeugen im öffentlichen Straßenverkehr. Hier liegt bereits bei einem bestimmten Alkoholgehalt des Blutes oder des Atems ein Gesetzesverstoß vor, weil das übermäßige Alkoholtrinken für ande-re gefährlich ist und deshalb unter Strafe gestellt wird. Die Untersuchung des Blutes oder des Atems als Sachbeweis reicht dabei aus. Die Feststellung des Bundesgerichtshofes,37 dass bei gleichem Alkoholgehalt die Trinkgewohnhei-ten und/oder die Verträglichkeit von Alkohol zu unterschiedlicher Beeinträch-tigung der Personen führen kann, kommt hier nicht zur Anwendung. Die indi-viduelle Schuld spielt eine untergeordnete Rolle und wird deshalb auch nicht mehr geprüft. Grund dieser Regelung ist jedoch, dass der Gesetzgeber eine andere Zielsetzung in den Vordergrund stellt. Nämlich die Prävention und Ge-fahrenabwehr. Leben, Gesundheit und Eigentum der Allgemeinheit sollen ge-schützt werden. Insofern ist diese Regelung doch keine Ausnahme. Bei allen anderen Straftaten gibt es keinen Grenzwert für die Alkoholkonzentration, der die Schuldfähigkeit obligatorisch ausschließen würde.38

3.1.2 Der Sachbeweis in der Strafprozessordnung
Die Strafprozessordnung (StPO) kennt den Oberbegriff „Sachbeweis" nicht. Sie bedient sich vielmehr verschiedener Bezeichnungen, wie „Gegenstände" bei der Beschlagnahme Personen und Einrichtungen zur Untersuchung in § 94 StPO, „Spuren einer Straftat" bei der Durchsuchung in § 103 StPO, „Beweis-stücke" bei der Akteneinsicht durch den Verteidiger in § 147 I StPO, „Spuren oder Merkmale" beim richterlichen Augenschein in § 86 StPO, „Spur oder Folge einer Straftat" in § 81 c StPO, „Tatsachen" in § 81 a StPO sowie „Ur-kunden und Schriftstücke" beim Urkundsbeweis in § 249. Seit 1998 ist bei Ordnungswidrigkeiten im Straßenverkehr die „Atemalkoholkonzentration" ein weiterer Sachbeweis, den der BGH39 als rechtmäßig bestätigt hat.



3.1.3 Beweiskraft
Der Sachbeweis stellt sich als Indizienbeweis dar, weil er nicht unmittelbar und direkt auf das Vorhandensein eines gesetzlichen Tatbestandsmerkmals hinweist.40 Er bezieht sich auf andere, tatbestandsfremde Tatsachen, sogenann-te Hilfstatsachen, z. B. der Fingerabdruck am Tatort beweist lediglich die An-wesenheit einer bestimmten Person. Dies allein erfüllt noch keinen Straftatbe-stand. Die Hilfstatsache „Fingerabdruck" deutet aber auf die Haupttatsache, den Tatbestand des Einbruchsdiebstahls in § 243 StGB, hin.

Der Indizienbeweis ist dann überzeugungskräftig, wenn andere Schlüsse aus den Indizientatsachen ernstlich nicht in Betracht kommen. Vom Indizienbe-weis muss also eine Überzeugungskraft ausgehen, die Schlüsse auf die Tatbe-standsmäßigkeit zulassen. Somit ist der Indizienbeweis der Anknüpfungspunkt für weitere Denkprozesse, die das Gericht zu einer bestimmten Überzeugung führen.41
In der täglichen Praxis bedeutet dies, dass z. B. das Vorhandensein von zwei-felsfrei identifiziertem Blut oder von Fingerabdrücken demnach noch kein Beweis für die Täterschaft sind, sondern lediglich die Spurenlegerschaft be-gründen. Selbst der Rückschluss für die Anwesenheit während der Tatausfüh-rung ist nur dann zulässig, wenn die Art der Lage der Spur zusätzliche Hin-weise gibt. Für den Beweis der Täterschaft oder gar für den der Schuld und der Rechtswidrigkeit müssen also noch weitere Tatsachen hinzukommen.

28 Peppersack / Baumann, a.a.O.
29 Weihmann, a.a.O., 2008 a, 36
30 Bachhiesl, a.a.O.
31 § 244 StPO
32 § 261 StPO
33 Peters, a.a.O.
34 Bach, a.a.O.; Timm, a.a.O.; Ziegenhaus, a.a.O.,
35 NJW 1975, 104
36 BGHSt 32, 127
37 BGHSt 5, 168, 170 ff.
38 BGH, NStZ 2005, 329
39 NZV 2001, 267
40 BGHZ 53, 245, 260, Anastasia
41 Nack, a.a.O., 1999
Die Illusion der Demokratie lebt von der Vertuschung staatlicher Rechtsbrüche, und leider verliert sich selbst die Standfestigkeit ursprünglich integerer Persönlichkeiten allzu oft in den Sümpfen der Politik.
Benutzeravatar
U.s.1 883
Beiträge: 1624
Registriert: Freitag, 01. März 2019, 19:17:28
Kronen: Ƹ̵̡Ӝ̵̨̄Ʒ
(ausgezeichnet mit einer Goldenen Krone für 1000 Beiträge)
Sterne:

Re: PROFILING - DIE FALLANALYSE

Ungelesener Beitrag von U.s.1 883 »

Sexuell motivierte Tötungsdelikte in Berlin 1990 - 2010
Ist im Netz

Vorsicht mit Fotos am Ende.

https://refubium.fu-berlin.de/bitstream ... sAllowed=y

Aus dem Institut/der Klinik für Rechtsmedizin
der Medizinischen Fakultät Charité – Universitätsmedizin Berlin

DISSERTATION

Sexuell motivierte Tötungsdelikte in Berlin 1990 - 2010


zur Erlangung des akademischen Grades
Doctor medicinae (Dr. med.)

vorgelegt der Medizinischen Fakultät
Charité – Universitätsmedizin Berlin

von
Marion Unger
aus Berlin-Pankow
Datum der Promotion: 25.10.2013
Die Illusion der Demokratie lebt von der Vertuschung staatlicher Rechtsbrüche, und leider verliert sich selbst die Standfestigkeit ursprünglich integerer Persönlichkeiten allzu oft in den Sümpfen der Politik.
Benutzeravatar
U.s.1 883
Beiträge: 1624
Registriert: Freitag, 01. März 2019, 19:17:28
Kronen: Ƹ̵̡Ӝ̵̨̄Ʒ
(ausgezeichnet mit einer Goldenen Krone für 1000 Beiträge)
Sterne:

Re: PROFILING - DIE FALLANALYSE

Ungelesener Beitrag von U.s.1 883 »


https://www.stern.de/p/crimeplus/interv ... =crimePlus

Aus Crime Plus
Elizabeth Loftus
Elizabeth Loftus ist weltweit eine der führenden Expertinnen im Bereich ?der Gedächtnisforschung. Ihr Spezialgebiet: Erinnerungsverfälschung
//Expertinneninterview "Es ist erstaunlich, was Menschen glauben, erlebt zu haben"
Augenzeugen sind hilfreich. Aber sie sind auch gefährlich. Denn unsere Erinnerungen sind sehr formbar. Ein Gespräch mit der Psychologin Elizabeth Loftus

Von Antje Joel

16. März 2022

Elizabeth Loftus, 76, ist Professorin für Psychologie und eine weltweit anerkannte Expertin für Gedächtnisforschung. Nicht jeder weiß ihre Arbeit zu schätzen. Im Flugzeug schrie ihre Sitznachbarin, als sie sie erkannte: "Sie sind also diese Frau!", und schlug mit einer zusammengerollten Zeitung auf sie ein. Loftus tritt seit vier Jahrzehnten in den USA als Expertin in Prozessen auf, deren Ausgang - vornehmlich oder zum Teil - an Augenzeugenberichten und Erinnerungen hängt. Loftus begutachtet die Zuverlässigkeit dieser Aussagen. Ein Staatsanwalt hat sie auf dem Flur eines Gerichts eine "Hure" geschimpft. Bei ihren Vorlesungen braucht sie bisweilen Polizeischutz.
Zur Person

Elizabeth Loftus, 76, ist Professorin an der Universität Irvine. Sie hat 19 Bücher veröffentlicht und zahl­reiche Studien zum Erinnerungsvermögen durchgeführt. Darunter das "Lost in the mall"-Expe­riment: Nachdem ihnen erzählt worden war, sie hätten sich als Kind im Einkaufszentrum verlaufen, konnte ein Viertel der Teil­nehmer das Ereignis lebhaft schildern, obwohl es tatsächlich nie stattgefunden hatte.

Loftus forscht seit mehr als 40 Jahren auf dem Gebiet menschlicher Erinnerung. Was sie in ihren Studien herausgefunden hat, trägt sie in die Hör- und Gerichtssäle. Letzteres fast ausschließlich als Sachverständige für die Verteidigung. Sie sagt, noch immer glauben zu viele Laien, Staatsanwälte, Richter und Juroren an die Zuverlässigkeit von Erinnerung. An die Glaubwürdigkeit von Augenzeugen. Studien führen 52 Prozent aller Verurteilungen von Unschuldigen auf Augenzeugenberichte zurück.

"Nie hätte ich gedacht, dass ich eine Wissenschaftlerin werde, die verändert, was die Leute von ihrer eigenen Geschichte als wahr anerkennen", sagt Loftus. "Nie hätte ich mir vorstellen können, dass ich einmal die Zielscheibe von zugleich Bösartigkeit und Verehrung werden würde."

*

Frau Loftus, beschreiben Sie uns, wie Erinnerung funktioniert.
Erinnerung funktioniert nicht wie ein Aufnahmegerät, das zuverlässig festhält, was wir erleben, und es dann wieder abspielen kann. Es ist sehr viel komplizierter. Unsere Erinnerungen sind nicht statisch. Sie wandeln sich mit dem Lauf der Zeit. Und je mehr Zeit vergeht, umso mehr Veränderungen, Verzerrungen unterliegen die Erinnerungen. Unser Verstand arbeitet neue Ereignisse in sie ein. Neue Fakten. Details. Es ist ein konstruktiver Prozess, es ist ein rekonstruktiver Prozess. Wir nehmen Bruchstücke von dieser und jener Erfahrung, füllen die Lücken auf und fügen das alles zusammen zu etwas, das sich wie eine Erinnerung anfühlt. Die Original-Erinnerung erfährt eine graduelle Metamorphose. Darum können Erinnerungen fehlerhaft sein.

Was hat Ihr Interesse an Ihrem Fachgebiet geweckt?
Das begann während meiner Doktorarbeit. Ich hatte einen Kurs bei einem Professor belegt, der an einem Projekt über unser semantisches Gedächtnis arbeitete. Er fragte mich, ob ich Lust hätte, mitzumachen. Bei dieser Forschung geht es um unser Gedächtnis für Wörter und Konzepte, im Grunde um unser Wissen von der Welt. Das Wissen, dass London eine Stadt ist und England ein Land, ist Teil unseres semantischen Gedächtnisses. Wir konnten in unseren Studien beispielsweise zeigen, dass Menschen, wenn sie gebeten werden: "Nennen Sie uns einen Vogel, der gelb ist", schneller dazu in der Lage waren, als wenn sie gebeten werden: "Nennen Sie uns einen gelben Vogel." 250 Millisekunden schneller. In meinen ersten eigenen Studien zeigten wir Probanden Szenen eines Autounfalls. Die Probanden, die wir später fragten, ob sie "den Bus" gesehen hatten, bestätigten das weit öfter als die Probanden, die wir fragten, ob sie "einen Bus" gesehen hatten. Obwohl es keinen Bus gegeben hatte. Fragten wir: "Wie schnell waren die Autos, als sie ineinanderkrachten?", nannten Probanden uns konstant höhere Geschwindigkeiten, als wenn wir fragten, wie schnell die Autos waren, als sie aufeinandertrafen.

Ein anderes Phänomen, dem großer Einfluss auf Augen­zeugenberichte zugeschrieben wird, ist das "Verbal Over­shadowing". Was genau versteht man darunter?
Das ist ein Begriff, den einer meiner ehemaligen Studenten, Jonathan Schooler, in seiner Dissertation benutzt hat. Er umschreibt eine Situation, in der Sie versuchen, eine Person zu beschreiben, die Sie gesehen haben. Aber gerade durch den Versuch, die Person mit Worten zu beschreiben, können Sie Ihre spätere Fähigkeit, die Person zu identifizieren, behindern. Unser Versuch verbaler Wiedergabe des Gesehenen gerät mit unserer visuellen Wahrnehmung in Konflikt, durcheinander und überlagert sie schließlich. Im Prozess des Beschreibens konstruieren Sie etwas, das von dem Erlebnis abweicht.

Was hat Sie dazu bewogen, auch als Gutachterin zu arbeiten?
Ich wollte eine Arbeit machen, die einen offensichtlicheren, praktischen Anwendungswert hat. Zum Beispiel im Bereich der Beschreibungen von Unfällen und Verbrechen. Darum begann ich in den 70er Jahren, Augenzeugenberichte zu studieren. Welchen Effekt Fehlinfor­mationen haben, wie man mit ihnen die Erinnerungen an die Details eines Ereignisses beeinflussen kann. Eines Ereignisses, das die Befragten tatsächlich erlebt haben.

Ihr erster prominenter Fall war Ted Bundy.
Nun, damals war er noch nicht prominent. Das war ein Fall schwerer Entführung, und Bundy war Jurastudent im ersten Semester. Berühmt ist er erst später geworden, nachdem er seiner Morde überführt worden war. Auffällig an ihm war zum damaligen Zeitpunkt nur, dass nicht allzu viele gerade Rechtswissenschaften studieren, wenn sie angeklagt werden.

Sie beschreiben in Ihrem Buch "Zeugin für die Verteidigung" Ihren ersten Eindruck von Bundy als "hinreißend".
O ja, ja. Ich konnte durchaus verstehen, wie es ihm möglich war, auf Frauen zuzugehen, eine Unterhaltung mit ihnen zu beginnen und, nun ja, von ihnen herzlich willkommen geheißen zu werden.

Das Leben wäre ein Spaziergang im Park, wenn es allen Mördern in die Stirn gemeißelt wäre.
(lacht)Genau! Ebenso glaube ich nicht, dass man Menschen ihre Unschuld ansehen kann. Aber, na ja, das sage ich heute, nachdem ich Jahrzehnte auf dem Gebiet gearbeitet habe. Ich denke, wir sollten auf keinen Fall jemanden anschauen und auf unseren "Instinkt" vertrauen. Egal, ob es um Schuld oder Unschuld geht.

*

Bundys Verteidiger John O'Connell hatte Loftus als Sachverständige angefragt, in der Hoffnung, die Glaubwürdigkeit der einzigen Augenzeugin, des Entführungsopfers, mithilfe ihrer Expertenaussage zu untergraben. Carol DaRonch, die nach kurzer Fahrt hatte entkommen können, hatte ihren Entführer als weißen Amerikaner, "25 bis 30 Jahre alt, braunes Haar, etwa 1,83 Meter, schlank, mit ordentlich gestutztem Schnurrbart, in grünen Hosen, Sportjacke und schwarzen, glänzenden Lacklederschuhen" beschrieben. Der Wagen sei ein "hellblauer oder weißer" VW-Käfer gewesen. Dann hatte sie die Aussage ein paarmal geändert. Aus einer Serie von Polizeifotos hatte sie zögerlich Bundys Bild herausgepickt: "Das könnte er sein." Später zeigten die Beamten ihr Bundys Führerscheinfoto. Bei einer Aufstellung war sie danach sicher: Bundy war ihr Entführer.

Das Entführungsopfer Carol DaRonch sagte in einem Prozess gegen Ted Bundy (re.) aus. Die Gutachterin Loftus hatte Zweifel an der Zuverlässigkeit ihrer Erinnerungen

AP / Picture Alliance

Loftus sagte zu. Indem die Beamten Carol DaRonch das Führerscheinfoto des Verdächtigen gezeigt hatten, hatten sie ihr womöglich eine falsche Erinnerung ins Gedächtnis gepflanzt, führte Loftus in ihrem Gutachten aus. Zudem hatte DaRonch während der Entführung Todesangst ausgestanden. "Wenn Menschen Angst haben, geraten ihre Erinnerungen durcheinander", schreibt Loftus in "Zeugin für die Verteidigung". "Sie vernachlässigen Details. Arrangieren Fakten neu. Wenn wir uns erinnern, ziehen wir Teile der Vergangenheit aus irgendeiner mysteriösen Region unseres Gehirns - ausgefranste Puzzlestücke, die wir sortieren und hin und her schieben, die wir ordnen und wieder umordnen, bis sie sich zu einem Muster zusammenfügen, das einen Sinn ergibt."

*

Aber der Richter hatte eine Schwachstelle in der Argumentation der Verteidigung gefunden: Carol Da Ronch war zunächst in einem Einkaufszentrum von Bundy angesprochen worden.
O ja, da war ein langer Zeitraum, 10 bis 15 Minuten, in dem sie in einer vermeintlich harmlosen Situation miteinander agierten. Kein Fall von plötzlichem Stress und großer Angst, und damit war die Sache klar. Also entschied sich der Richter, Da Ronch zu glauben und Bundy zu verurteilen.

Haben Sie als Sachverständige für die Verteidigung in solchen Momenten das Gefühl, zu verlieren?
Nein. Es geht mir nur darum, die wissenschaftliche Seite darzulegen. Es gab noch andere Ungereimtheiten, Faktoren, die durchaus diskutabel waren. Da war zum einen die Zeit, die von der Entführung bis zu seiner Identifizierung durch Da Ronch vergangen war. Und es war durch das spätere Zeigen des Führerscheinbildes keine ideale Identifizierungssituation gewesen. Mein Job ist nicht, zu zeigen, dass jemand lügt. Bei meiner Arbeit geht es darum, zu zeigen, wie jemand dazu kommen kann, aufrichtig etwas zu glauben, das womöglich nicht der Wahrheit entspricht. Die Leute bringen das manchmal durch­einander. Sie verstehen nicht, was wir zu erklären versuchen. Tatsächlich helfen Expertenaussagen wie meine auch, jemanden nicht als Lügner dastehen zu lassen.

Es scheint für uns schwer begreiflich, dass Wahrheit nicht in Stein gemeißelt ist. Sondern dass all diese Faktoren bei der Rekonstruktion der Wahrheit beachtet und abgewogen werden müssen.
Und es ist besonders schwer zu verstehen, wenn es sich bei dem Angeklagten um eine unbeliebte Person handelt. Das ist nicht die beste Voraussetzung, Menschen dazu zu bringen, wissenschaftliche Erkenntnisse zu beachten. Bundy war zu der Zeit, als ich als Sachverständige für ihn aussagte, noch kein extrem unbeliebter Angeklagter. Aber das wurde er später.

Anfang der 90er Jahre begannen Sie, sich für sogenannte "unterdrückte Erinnerungen" zu interessieren.
Ja. Der Verteidiger in einem sehr bekannten Fall hier, dem George-Franklin-Fall, nahm Kontakt zu mir auf. Franklin war wegen Mordes angeklagt, und zwar auf Basis von nichts anderem als den "unterdrückten Erinnerungen" einer Augenzeugin, die diese sich angeblich wieder ins Gedächtnis hatte zurückrufen können. Und die dann als Beweis zugelassen wurden. Das weckte mein Interesse an dem Phänomen.

*

Franklins Tochter hatte 20 Jahre nach dem unaufgeklärten Mord an ihrer Schulfreundin Susan Nason ausgesagt, sie könne sich plötzlich wieder - im Detail - daran erinnern, wie ihr Vater Susan zunächst vergewaltigt und dann erschlagen habe. Der Vater habe ihr gedroht, auch sie zu töten, sollte sie jemandem davon erzählen. Darum habe sie ihre Erinnerungen "unterdrückt". Loftus sagte als Sachverständige aus. Sie hatte in der wissenschaftlichen Literatur keinen Beleg für die Existenz "unterdrückter Erinnerungen" und die Möglichkeit ihrer späteren Wiedergabe finden können. Aber sie hatte die Ergebnisse ihrer eigenen Studien zur Formbarkeit von Erinnerungen: Ihre Probanden "erinnerten" sich infolge gezielter Fehlinformationen durch die Versuchsleiter oder Dritte daran, wie sie als Kind in einem Einkaufszentrum verloren gegangen waren. Wie sie von einem gefährlichen Tier angegriffen worden waren. Oder wie sie als Teenager eine Straftat begangen hatten. Sie erinnerten sich mit allen dazuge­hörigen Emotionen. Nichts davon war tatsächlich geschehen. Loftus stellte infrage, ob die Erinnerungen der Tochter tatsächlich Erinnerungen waren. Oder nur die detailgenaue Rekonstruktion früherer Zeitungsberichte, Fehler inklusive. Franklin wurde dennoch verurteilt. 1995 wurde sein Fall jedoch erneut aufgenommen und seine Verurteilung schließlich aufgehoben.

George Franklin saß jahrelang im Gefängnis. Seine Tochter Eileen hatte ?ausgesagt, dass sie beobachtet habe, wie er ihre Schulfreundin ermordet hatte



*

Ziemlich schockierend, woran Menschen sich bisweilen zu erinnern glauben. Morde, rituelle Opferungen, satanische Rituale.
O ja, es ist erstaunlich, was Menschen glauben, alles erlebt zu haben. Erlebnisse, für die es keinerlei Anhaltspunkte geschweige denn eine Bestätigung gibt. Viele der Therapeuten, die mittels Therapie, Hypnose oder Drogen "unterdrückte Erinnerungen hervorholten", wurden später von ihren Patienten wegen Missbrauchs verklagt, als die Patienten feststellten, dass ihre Erinnerungen falsch waren. Das ist eine ganze Sammlung von Klagen und Gerichts­fällen.

Ist es grundsätzlich möglich, traumatische Erinnerungen zu unterdrücken?
Nun, Sie können lange nicht mehr an etwas gedacht haben und dann wieder daran erinnert werden. Und wenn jemand Sie an etwas erinnern will, wo­rüber Sie nicht nachdenken möchten, können Sie sich ablenken. Zum Beispiel, indem Sie sich zwingen, an andere Dinge zu denken. Oder mit welchen Mechanismen auch immer, die Ihnen zur Ablenkung und Bewältigung zur Verfügung stehen. Wenn es das ist, was Sie mit "Erinnerungen unterdrücken" meinen, ja, das gibt es.

Aber das wäre ein bewusstes Unterdrücken?
Ja. Das geschieht gewöhnlich bewusst. Es gibt keinen wissenschaftlichen Beleg für die Theorie der Therapeuten, dass Sie diesen großen Wust traumatischer Erfahrungen nehmen und über Jahre ins Unterbewusstsein verbannen können oder müssen, um mit ihnen zurechtzukommen. Und dass Sie die Erinnerungen dann zu einem späteren Zeitpunkt detailliert wieder abrufen können, um sie zu verarbeiten.

Ist es überhaupt sinnvoll, verdrängte Traumata wieder abzurufen?
Mir sind keine klinischen Versuche bekannt, die belegen könnten, dass das Hervorgraben von widerspenstigen Trauma-Erinnerungen den Leuten hilft, ihre Depression, ihre Angstzustände oder ihre Essstörung zu kurieren.

*

Loftus hat eigene Erfahrungen mit Traumata und der Formbarkeit der Erinnerungen gemacht. Sie war 14, als ihre Mutter bei einem Verwandtenbesuch im Swimmingpool ertrank. Jedes Mal, wenn Loftus daran zurückdachte, gewann die Erinnerung an Substanz. "Ich kann die Kiefern sehen, kann ihren frischen teerigen Atem riechen, kann das algengrüne Wasser des Sees auf meiner Haut spüren, ich kann Onkel Joes Eistee mit dem frisch gepressten Zitronensaft darin schmecken", schreibt sie in "Der Mythos von den unterdrückten Erinnerungen". Der Tod selbst aber war vage, verschwommen. Sie hatte die tote Mutter nicht gesehen.

30 Jahre später eröffnete ihr ein Verwandter, dass Loftus selbst die Mutter gefunden hatte. "Nach dem ersten Schock kamen die Erinnerungen zurück. Ich konnte mich selbst sehen, ein dünnes, dunkelhaariges Mädchen, wie ich in das glitzernde, blauweiße Wasser des Swimmingpools schaue. Meine Mutter, im Nachthemd, treibt mit dem Gesicht nach unten." Mit den Bildern kamen die "unterdrückten" Gefühle. Der Terror. Ihr Schreien.

Drei Tage nach der Offenbarung rief ihr Bruder sie an: Der Verwandte hatte sich falsch erinnert. Tatsächlich hatte eine Tante die Mutter gefunden. Andere Verwandte bestätigten das. "Ich blieb mit meinen in sich zusammengefallenen Erinnerungen zurück. Und mit dem Erstaunen über diese angeborene Leichtgläubigkeit selbst des skeptischen Verstandes."

*

Sie wurden bedroht und mit Klagen überzogen, nachdem Sie die Theorie von den "unterdrückten Erinnerungen" angezweifelt hatten. Werden Sie noch immer angegriffen?
O ja, speziell im vergangenen Jahr, als ich für einen nicht sehr populären Angeklagten meine Expertenaussage machte, Harvey Weinstein.

Warum sagten Sie für ihn aus?
Ich wollte es eigentlich gar nicht. Ich hatte seine Anwälte überzeugt, eine andere Expertin anzuheuern, die für diesen Fall besser geeignet war. Aber dann sprach Harvey Weinstein mit Alan Dershowitz, einem ehemaligen Harvard-Professor, mit dem ich zusammengearbeitet hatte, und das endete damit, dass Weinstein mich zusätzlich wollte. Der Richter gab dem statt. (Seufzt.) Und obwohl mir ziemlich unbehaglich war, wegen einiger Dinge, von denen ich gehört hatte, habe ich mich verführen lassen - und zwar durch die Presse. Ich sage den Leuten seit Jahren: Lasst nicht die sensationsgeile Presse darüber entscheiden, ob ­jemand schuldig ist oder nicht. Diese Fälle müssen individuell untersucht werden. Jetzt wollte ich nicht diejenige sein, die sich vom Urteil der Presse beeinflussen lässt. Ich wusste, dass, wenn ich für Weinstein aussagte, es meinen Möglichkeiten schaden würde, anderen in Zukunft zu helfen. Aber ich dachte: "Wenn ich aus diesen selbstsüchtigen Gründen jetzt ausstiege, muss ich mich wie ein Feigling fühlen." Darum sagte ich zu, nach New York zu fliegen und ganz generell über das Wissenschaftliche zu sprechen. Nicht über einzelne Leute. Und trotzdem gab es heftige Gegenreaktionen.

Wie könnte Ihre Aussage für Weinstein spätere Angeklagte beeinträchtigen?
Das kommt dann vor Gericht immer wieder: "Haben Sie nicht für Weinstein ausgesagt?!" So, als ob Sie für jeden aussagen würden. Noch für die grässlichsten, einwandfrei schuldigen Verbrecher. Das ging schon seit Jahren so: "Haben Sie nicht für Bundy ausgesagt! Haben Sie nicht für den Oklahoma-Bomber ausgesagt! Haben Sie nicht für den Hillside-Strangler ausgesagt!" Es wird immer versucht, den aktuellen Angeklagten mit meinen früheren Fällen in Verbindung zu bringen. Und ich wusste, das würde wieder passieren. Also warnte ich die Anwälte, mit denen ich zusammenarbeite: "Ich muss Sie wissen lassen, dass ich für Weinstein als Sachverständige aussagen werde. Vielleicht möchten Sie sich also lieber eine andere Expertin suchen." Aber nicht ein Einziger hat das getan.

Was genau war Ihre Rolle im Weinstein-Prozess?
Ich sprach allgemein über die Verzerrung von Erinnerungen und über deren Formbarkeit. Und wie Leute sich an etwas erinnern können, das nicht passiert ist. Oder wie sie ein Verhalten aggressiver und schrecklicher in Erinnerung haben können, als es tatsächlich war. Allgemein gehaltene Aussagen. Aber natürlich wollte die Verteidigung das womöglich benutzen, um zu argumentieren, dass einige der Schilderungen übertrieben oder verzerrt waren.

Loftus verlässt das Gericht in New York. Sie ist dort als Sachverständige im ?Prozess gegen den Filmproduzenten Harvey Weinstein aufgetreten


Da bin ich sicher.
Ja, nun, ich habe mir nicht die Schlussplädoyers angehört, aber das war schon das Leitmotiv der Verteidigung.

Ist das dann noch voneinander zu trennen? Sie, die als Vertreterin der Wissenschaft spricht, und die Verteidigung, die diese Wissenschaft nutzt?
Das war ein ungewöhnlicher Fall für mich. Normalerweise lese ich alle Polizeiberichte und weiß eine Menge über die Beteiligten. Aber hier ließ der Richter nur eine ganz allgemeine Aussage zu. Und da war ich sehr froh drüber. Ich wusste keine Einzelheiten über die Klägerinnen. Und die Jury entschied sich dann, wie Sie wissen, Weinstein in einigen der Anklagepunkte zu verurteilen und in anderen nicht.

Würden Sie für jemanden aussagen, von dem Sie wissen, dass er schuldig ist?
Ich hatte schon Fälle in der Vergangenheit. ich meine, das Ding ist, ich weiß es nicht. Die Anwälte rufen mich nicht an und sagen: "Mein Mandant hat's getan. Helfen Sie mir, ihn rauszuboxen." Die sagen entweder: "Ich weiß nicht, ob er's getan hat." Oder sie sagen: "Ich habe schreckliche Angst, dass ich hier einen unschuldigen Mandanten habe." Das ist der Albtraum jedes Verteidigers. Da steht so viel auf dem Spiel. Aber ich habe in der Vergangenheit schon für Angeklagte ausgesagt, bei denen ich der Über­zeugung war, sie haben einige der Verbrechen begangen. Aber nicht alle. Oder nicht in der ihnen vorgeworfenen Intensität.

Wie gehen Sie mit den Angriffen um?
Das gefällt mir natürlich nicht. Besonders nicht, wenn jemand mich verklagt. Aber ich komme damit schon irgendwie klar, indem ich mich auf das Positive konzentriere. E-Mails und Briefe, die ich von Leuten bekommen habe, denen meine Arbeit eine Hilfe war und die ihre Dankbarkeit ausdrücken. Für meine Ideen und für meine Bereitschaft, unter allen Umständen öffentlich darüber zu sprechen. Ich habe einen ganzen Ordner solcher Schreiben. Ich nenne ihn meinen "Wenn ich traurig bin"-Ordner. Den lese ich mir immer mal wieder durch. Nur um mich daran zu erinnern, dass mir nicht jeder böse ist für das, was ich tue.
Marta Faye

ANTJE JOEL, freie Autorin, setzte sich mit Elizabeth Loftus und ihrer Forschung zu Erinnerungen erstmals in ihrem Masterstudium auseinander. Joel, die im Fachbereich Kriminologie/forensische Psychologie an einem Forschungsprojekt zu Sprachgebrauch und seinem Einfluss auf unsere Sicht der Welt arbeitet, ist von Loftus' Erkenntnissen fasziniert und hat Achtung für ihre akademische Standfestigkeit - auch wenn sie nicht in allem mit Loftus übereinstimmt. "Wenn neue Erkenntnisse das Weltbild bedrohen, mit dem wir es uns gemütlich gemacht haben, neigen wir dazu, sie und die Forscher dahinter zu verteufeln", sagt Joel. "Das ist ein gefährlicher Trend. Aufklärung braucht Diskussion."

Erschienen in stern Crime 36/2021


Die Illusion der Demokratie lebt von der Vertuschung staatlicher Rechtsbrüche, und leider verliert sich selbst die Standfestigkeit ursprünglich integerer Persönlichkeiten allzu oft in den Sümpfen der Politik.
Benutzeravatar
U.s.1 883
Beiträge: 1624
Registriert: Freitag, 01. März 2019, 19:17:28
Kronen: Ƹ̵̡Ӝ̵̨̄Ʒ
(ausgezeichnet mit einer Goldenen Krone für 1000 Beiträge)
Sterne:

Re: PROFILING - DIE FALLANALYSE

Ungelesener Beitrag von U.s.1 883 »

Sprechen Medien und Politiker von mafioser Ökonomie in Europa
so haben sie kriminelle Organisationen im Sinn, die in der einen oder
anderen Weise rechtswidrig wirtschaftlich tätig sind. Von diesen »Ma-
fiosi« grenzen sie die guten Unternehmer ab. Unter denen gebe es
zwar auch schwarze Schafe, und davon auch immer mehr; aber im
Gegensatz zu den ersteren gingen Unternehmer, die sich nicht an die
Gesetze hielten, dennoch ehrbaren Tätigkeiten nach.
Dieses allen vertraute und liebgewonnene Gut-Böse-Schema
stimmt mit der Realität nicht mehr überein - wenn es je ge-
stimmt hat.
Legales und illegales wirtschaftliches Handeln sind inzwischen
komplementäre Größen geworden. Die Zeiten sind vorbei, in denen
man mehr oder weniger scharf die Grenzen ziehen konnte zwischen
den im Rahmen der Gesetze handelnden Wirtschaftssubjekten und
der kriminellen Ökonomie. Heute arbeiten beide Sphären, falls man
sie noch als zwei Sphären bezeichnen kann, nach dem gleichen Pro-
fitmaximierungsprinzip und tummeln sich sowohl im legalen wie im
illegalen Raum. Natürlich sind die Ränder immer noch einigermaßen
scharf markiert - ein Mercedes-Konzern wird zwar Steuern beispiels-
weise durch Gewinnauslagerung hinterziehen, aber er wird die Autos
seiner Konkurrenz nicht klauen und verschieben; Hoechst stellt zwar
weiterhin Arzneimittel her, die als Drogen zu gelten haben, wird des-
halb aber keine strategische Allianz mit den Kartellen in Medelhn
schließen, nur um eine Monopolstellung auf dem Kokainmarkt zu
erzielen. Umgekehrt wird die kalabresische n'drangetha keine größe-
ren Aktienpakete von High-tech schmiedenden Kriegsgerätekonzer-
nen kaufen, nur um ihre Stellung auf dem illegalen Waffenmarkt zu
stärken; und die japanische yakuza steigt nicht persönlich ins Akt
senmaklergeschäft ein, um die Profitmargen ihrer Anteile an Imobilien-
oder Pensionsfonds in die Höhe zu treiben.


Doch wenn man noch vor rund zehn Jahren sagen konnte, das
Illegalen oder als illegal deklarierten Waren und Dienstleistung
handeln kriminelle Organisationen, legale Güter und Produkte dage-
gen werden von den allen bekannten Unternehmen im Rahmen der
allen bekannten Marktwirtschaft produziert und wenneben, dann
stimmt dies so heute nicht mehr. Nicht nur, daß die einen vereinzelte
Ausflüge in das Terrain der Anderen unternehmen, also die »Mafias«
in die als legal definierten Wirtschaftsaktivitäten und die als normal
geltenden Unternehmen in die kriminell gerichteten Aktivitäten,
sondern zwischen diesen Wirtschaftssubjekten haben sich arbeitsteili-
ge Prozesse entwickelt, sowohl komplementärer wie substitutiver
Natur. Verschiebt man seinen Blick von den Rändern weg in die Mit-
te, dort wo das Gros wirtschaftlichen Handelns sich abspielt, so sieht
man sich einer enormen Grauzone gegenüber. Hier sind die Umrisse
von Legalität und Illegalität noch weniger auszumachen als die der
schwarzen Cabs bei dichtestem Nebel in der Londoner City.
Diese Feststellungen sind nicht gerade beruhigend. Sie rufen un-
mittelbar Zweifel und Abwehrreaktionen hervor; denn wenn die
Konturen verschwimmen, breiten sich Orientierungslosigkeit und
Unsicherheit aus. Wenn die Grenzen zwar noch markiert, aber so
verblaßt sind, daß man sie nicht mehr erkennt, so ruft das Ohn-
machtsgefühle hervor. In einer solchen Situation stellt man sich zu-
erst die Frage, ob die getroffenen Behauptungen und Beschreibungen
überhaupt stimmen, und man wird - menschlich, allzu menschlich -
sofort Beispiele suchen und finden, die die Wirklichkeit nicht in ei-
nem gar so neblig grauen Licht erscheinen lassen.

Widerstehen wir einmal dieser Versuchung und betrachten das düstere Gemälde
etwas eingehender. Dann können neue Konturen sichtbar werden; Kontu-
ren, die wie bei einem Bild von Turner unter einem bestimmten
Blickwinkel aus dem Nebel hervortreten.

Nichts wäre gefährlicher, als wenn .dies - legales wie illegales Wirt-
schaften - ununterscheidbar in einem grauen Einheitsbrei ineinander
verschwimmen würde. »Wenn überall Mafia ist, dann ist nichts mehr
Mafia«, lautete eine unserer Parolen in der Anti-Mafia-Bewegung aus
Sizilien.


Auf der Erscheinungsebene mit ihren Einzelfällen wie sie den
Strafverfolgungsbehörden entgegentreten, findet nun beispielweise
in den Polizeiberichten Spaniens und Englands, Deutschlands und
Ostreichs, Frankreichs und Italiens unzahlige Hinweise
Ökonomie. Selbstverständlich sind Unterschiede zwischen der
zemen Ländern sowohl in quantitativer wie qualitativ« Hinsicht
festzustellen, weil Verstöße gegen international gehende Drogenge-
setze beispielsweise in den Niederlanden anders betrachtet und be-
handelt werden als jenseits des Ärmelkanals in Großbritannien.


Andererseits sind die Unterschiede zwischen den einzelnen Mitgliedstaa-
ten der EU auch wiederum nicht so bedeutsam, als daß man von ei-
nem Nord-Süd- oder Ost-West-Gefälle sprechen könnte.



Größere Verschiedenheiten sind bemerkbar, wenn man die Struk-
turen betrachtet, die mafiose Ökonomie in liuropa steuern. Vor al-
lem auf dem Gebiet der organisierten kriminellen Strukturen (zu-
meist reduktiv als »organisierte Kriminalität« aus der Polizeisprache
bekannt) gibt es keine europäische Gleichverteilung. Hier zeigt sich
ein deutliches Übergewicht der drei Organisationen des»mafiosen
Typus« aus dem Mezzogiorno Italiens. Diese Feststellung gilt inzwi-
schen aber nur noch insoweit, als man die in den EU-Mitgliedslän-
dern genuin gewachsenen OK-Strukturen in Betracht zieht. Erweitert
man die Palette um all die OK-Strukturen, die auf europäischem Bo-
den tätig sind, so verschieben sich die Gewichte sogleich beträchtlich.
Ein kurzer Blick auf die Landkarte der organisierten Kriminalität in
der EU macht dies unmittelbar deutlich: Wenn Finnland z.B. wenig
mit südamerikanischen Kokainkartellen in Berührung kommt, aber
dafür um so mehr mit den »roten Mafias« aus der ehemaligen SU, so
kennen Spanien und Portugal kaum tschetschenische oder russische
»Mafiosi«, dafür aber um so mehr Drogenbosse aus Kolumbien; wäh-
rend man in England und den Niederlanden genau weiß fund nicht
nur in für OK zuständigen Polizeikreisen), was chinesische Triaden
sind, verbindet man damit in Italien eher eine neue An von Früh-
lingsrolle. Um zu wissen, was sich vermeintlich oder tatsächlich an
organisierter Kriminalität alles in Deutschland tummelt, muß man
nicht die BKA-Berichte lesen, dazu reicht schon beim Zappen der
kurze Blick in die unzähligen Krimiserien von »Wolfs Revier" oder
»Balko« bis hin zu »Tatort« oder »Polizeiruf 110«. Was die süditalie-
nischen Mafias nahelegen und in Deutschland besonders gut zu beob-
achten ist, ist die Tatsache, daß auch die mafiose Ökonomie Europa
als einen einheitlichen Markt begreift und in ihm mit wachsender Ge-
schwindigkeit länderübergreifend akquiriert, produziert und distribu-
iert. Hochgradig arbeitsteilig, versteht sich; denn auf diesem Markt
hat der kriminelle Handwerker keine Chancen mehr, außer er ist ge-
nial und findet eine profitable Nische.


Wendet man sich der Warenpalette zu, die die mafiose Ökonomie nicht
handhabt,im Angebot hat, so gibt es kaum noch etwas, was nicht illegal ver-
trieben wird und illegal/legal erworben werden kann: Gucci-
Handtaschen und polnische Gänse, afghanischen Haschisch und hai-
tianische Mädchen, brasilianische Papageien und amerikanische
Computersoftwarc, tschechische Maschinenpistolen und japanische
Immobilienfond-Anteile, russisches Plutonium und Parfüm von Car-
din, deutschen Sondermüll, flämische Maler und Erdöl aus Ghana.
Noch gibt es in der kriminellen Ökonomie einige große Misch-
konzerne, wie zum Beispiel die neapolitanische Camorra, die nahezu
mit allem und auf besonderen Wunsch mit dem Ausgefallensten han-
delt, was auf dieser Welt produziert wird. Dabei interessiert es über-
haupt nicht, ob es sich auch um »illegale« Waren handelt. Die Unter-
schiede zwischen legal und illegal werden nur in den Profitraten
sichtbar; es war schon immer etwas teurer, etwas Besonderes zu besit-
zen, und ein höheres Risiko kostet eben auch ein bißchen mehr. Ins-
gesamt hat sich jedoch im letzten Jahrzehnt ein Trend zur Spezialisie-
rung abgezeichnet.


Zwar hat auch das »law enforcement* und seine,
wenn auch noch rudimentäre, internationale Vernetzung dazu beige-
tragen, doch der treibende Motor in dieser Entwicklung waren die
Kosten- und Konkurrenzstrukturen. Es macht neute betriebswirt-
schaftlich keinen Sinn mehr, von der Rohstoffgewinnung über die
Verarbeitung bis hin zum Transport und Vertrieb alles durch eine
Firma abwickeln und kontrollieren zu lassen, besonders wenn die
einzelnen Wirtschaftsstufen auf alle fünf Kontinente und einige Dut-
zend Länder verteilt sind. Die mafiose Ökonomie folgt auch in die-
sem Punkt der allgemein zu beobachtenden Wirtschattsentwicklung.
Was soeben für die Warenpalette testgestellt wurde, gilt mutatis
mutandis auch für die Produktions- und Vertriebsstrukturen. Es wird
zumeist arbeitsteilig global produziert und ebenso vertrieben. Allein
das Heer der »white collar workers-, das in der mafiosen Ökonomie
beschäftigt oder ihr angeschlossen ist, hat sich im Verlaule des letz-
ten Jahrzehnts enorm spezialisiert. Die mit illegalen wattenverkau-
fen vertrauten Anwalts- und Notarsozietäten haben einen solchen
Dschungel von nationalen Gesetzen, europäischen Vorschriften und
internationalen Abkommen zu umgehen, daß sie sich nicht auch
noch ausreichend im Menschen-, Arten- oder Organhandel auskennen
können. Ihr Erlolg (und damit auch ihr Honorar) bemißt sich an ih-
ren Fachkenntnissen und somit daran, wie weit sie das Risiko, daß ei-
ne illegale Transaktion ruchbar wird und in der Öffentlichkeit zu ei-
zu Skandal gemacht werden kann, gegen Null drücken können.

(Apropos: Wenn im illegalen Drogenhandel trotz massiven Einsätze
von Polizei und Zoll die »Aufklärungsrate« offiziellen Angaben zii
folge bei fünf Prozent liegt, so ist sie beim illegalen Waffenhandel
weit unter einem Prozent anzusetzen.)

Aber der Trend zur arbeitsteiligen Spezialisierung ist mein nur ho-
rizontal - d.h. entlang den Produkttypen, .ilso Giftmüll, Kinderpro-
stitution, Autoverschiebung - zu beobachten, sondern in zunehmen-
dem Maße auch vertikal. Ein Beispiel mag genügen, um dies zu ver-
deutlichen.

Beim Autbau »marktwirtschaftlicher Strukturen« in der
ehemaligen UdSSR haben die italienischen Mafias den russischen Ma-
fias tatkräftig zur Seite gestanden, woraus sich strategische Allianzen
entwickelt haben. Inzwischen - einige Entwicklungsstufen können
übersprungen werden - erledigen die »roten Mafias« die Drecksarbeit
im Drogengeschätt. und die dabei verdienten Narkodollars bewegen
die »schwarzen Mafias« aus Palermo, Trapani und Agrigent. Wenn
das Geld zum ersten Mal in hauseigenen Banken im neuen Zarenreich
weißgewaschen ist, läßt es die italienische Mafia über ihre äußerst ver-
sierten Spezialisten, die an allen wichtigen Börsenplätzen der Welt
präsent sind und gediegene Visitenkarten in der Hochfinanz, vorwei-
sen können, mehrmals um den Globus zirkulieren, um es (jeglicher
Herkunft beraubt) profitabel dort in der »legalen Wirtschaft« anzule-
gen, wo sie strategische Positionen erobern möchte oder wo die
höchsten Gewinnraten winken.

Illegales Wirtschaften ist eine Profitmaximierungsstrategie der Ein-
zelkapitale mittels Senkung der Stückkosten im Verhältnis zum ein-
gesetzten Kapital. Läßt man das »illegal« weg, so kann dieser Satz ge-
nauso gut für die legale Wirtschaft stehen. Es muß also ein Zusatz
gemacht werden, der den Unterschied zwischen beiden benennt. Die
Diskriminante konnte man bisher auf die Formel bringen, daß die
mafiose Ökonomie sich zur Senkung der Stückkosten über gesetzli-
che Vorschriften (öffentliche Ausschreibungen. Abspracheverbote,
Tarifverträge, Sozialleistungen, Sicherungsvorschriften am Arbeits-
platz etc.) hinwegsetzte. Inzwischen macht dies in verstärktem Maße,
wie allseits bekannt, auch die legale Wirtschaft. Von »oben« wie von
-unten« zertrümmern diese beiden Akteure mit wachsendem Erfolg
das Regelwerk, die Schutzmaßnahmen und Rahmenbedingungen, die
in Gesetze und Verordnungen gegossen in der Wirtschafl den Schill/
aller Beteiligten sichern und dem Wohl aller dienen sollten. Der im
mer ohnmächtiger werdende Nationalstaat kann da nur hilflos zu-
schauen, wenn er nicht ohnehin beide Augen zudrückt oder, wie be-
kannt, häufig in eine andere Richtung guckt.
Ein Beispiel vermag diesen Zusammenhang vielleicht schneller zu
verdeutlichen als abstrakte Analysen Kampanien, das Land der Ca-
morra um Caserta, Neapel und Salerno, ist die Region feinem deut-
schen Bundesland vergleichbar), die in Italien die höchste Arbeitslo-
senquote aufweist - fast 30 Prozent. Wer das Hinterland am Golf von
Neapel kennt, den werden diese Zahlen nicht verwundern und auch
nicht die Tatsache, daß er wenig Arbeitslose auf den Straßen finden
wird. Denn für einen Arbeitsplatz, der in den letzten anderthalb
Jahrzehnten in der staatlichen und privaten legalen Wirtschaft verlo-
ren ging, schuf - der Euphemismus sei erlaubt - die Camorra andert-
halb neue Jobs in der illegalen Ökonomie. Wobei sich von selbst ver-
steht, daß die neuen, zum Teil offen kriminellen Tätigkeiten in Ent-
lohnung und sozialer Absicherung wenig Ähnlichkeit mit denen ha-
ben, die in gewerkschaftlich ausgehandelten Tarifverträgen niederge-
legt sind. Dieser Boom wurde ermöglicht, weil sich die Camorra
frühzeitig ein Quasi-Monopol auf dem Okosektor gesichert hatte
(vom nationalen/internationalen i [andel mit toxischem Müll über
sogenannte Umweltreparaturen bis hin zur einfachen Abfallbeseiti-
gung). In Kampanien stehen gegenwärtig die Mutterhauser der euro-
päischen Öko-Mafias. Jeder ECU, den die ( )ko-Mafia in den Ländern
der EU verdient, kostet den jeweiligen Staat bzw. dessen Bevölkerung
rund 10 ECU, also das Zehnfache. Über 30 Milliarden DM setzt die-
ser Wirtschaftszweig mit seinem Freiwild .in Lohnabhängigen allein
in Italien um. Es ist damit zum Spitzenreiter der illegalen Ökonomie
in Europa aufgestiegen und rangiert vom Umsatz her weit vor allen
Drogenkartellen zusammengenommen.

Ende Teil 1

Text aus 1997

Die Illusion der Demokratie lebt von der Vertuschung staatlicher Rechtsbrüche, und leider verliert sich selbst die Standfestigkeit ursprünglich integerer Persönlichkeiten allzu oft in den Sümpfen der Politik.
Benutzeravatar
U.s.1 883
Beiträge: 1624
Registriert: Freitag, 01. März 2019, 19:17:28
Kronen: Ƹ̵̡Ӝ̵̨̄Ʒ
(ausgezeichnet mit einer Goldenen Krone für 1000 Beiträge)
Sterne:

Re: PROFILING - DIE FALLANALYSE

Ungelesener Beitrag von U.s.1 883 »

Auf der Erscheinungsebene mit ihren Einzelfällen wie sie den
Strafverfolgungsbehörden entgegentreten, findet nun beispielweise
in den Polizeiberichten Spaniens und Englands, Deutschlands und
Oestereichs, Frankreichs und Italiens unzahlige Hinweise zur OKnomie (Organisierte Kriminalität).

Sollte es heißen.
Die Illusion der Demokratie lebt von der Vertuschung staatlicher Rechtsbrüche, und leider verliert sich selbst die Standfestigkeit ursprünglich integerer Persönlichkeiten allzu oft in den Sümpfen der Politik.
Benutzeravatar
U.s.1 883
Beiträge: 1624
Registriert: Freitag, 01. März 2019, 19:17:28
Kronen: Ƹ̵̡Ӝ̵̨̄Ʒ
(ausgezeichnet mit einer Goldenen Krone für 1000 Beiträge)
Sterne:

Re: PROFILING - DIE FALLANALYSE

Ungelesener Beitrag von U.s.1 883 »

Militärkriminologie


Es ist festzuhalten: die staatlichen Sicherheitsorgane als auch nichtstaatliche Sicherheitsorgane beziehungsweise die Kaserne/der Lebensraum stellt ein quasi (mehr oder weniger)geschlossenes System dar. Sie ist weiterhin eine Instanz der so genannten sekundären Sozialisation. Mit dem Eintritt in die oben genannten Organe findet eine Hinneinwachsen der Wehrpflichtigen in die Regel - und Normensystem des oben genannten statt. Zum Beispiel eintritt in die Bundeswehr bzw. während der Ableistung des Wehrdienstes findet aber auch eine teilweise, im Einzelfall qualitativ und quantitativ unterschiedliche Entsozialisierung der Soldaten statt, die eine kriminovalente Komponente enthält.
Wie aus dem zunächst generellen Aufzeigen der organisatorischen, sozialen und soziologischen Gegebenheiten sichtbar wurde, existieren in diesem quasi geschlossenen System z.B. "Armee" eine Vielzahl von kriminogenen Faktoren, die im zivilen Bereich in diesen Erscheinungsformen, Schwerpunkten und Interdependenzen nicht oder bestenfalls nur ähnlich vorzufinden sind.
Sie erhöhen oder mildern den Spannungsbereich z.B. soldatischen delinquenten Verhaltens, insbesondere für den Verpflichteten; in der weiteren Analyse werden diese Faktoren im einzelnen bereits theoretisch, teils empirisch untersucht werden.

Die Illusion der Demokratie lebt von der Vertuschung staatlicher Rechtsbrüche, und leider verliert sich selbst die Standfestigkeit ursprünglich integerer Persönlichkeiten allzu oft in den Sümpfen der Politik.
Benutzeravatar
U.s.1 883
Beiträge: 1624
Registriert: Freitag, 01. März 2019, 19:17:28
Kronen: Ƹ̵̡Ӝ̵̨̄Ʒ
(ausgezeichnet mit einer Goldenen Krone für 1000 Beiträge)
Sterne:

Re: PROFILING - DIE FALLANALYSE

Ungelesener Beitrag von U.s.1 883 »



Ulrich Lewe: Vorbeugende Anhaltung. Der Maßregelvollzug. Das Schwarze Loch im Psychiatrieuniversum. Schmetterling Verlag GmbH (Stuttgart) 2022. 272 Seiten. ISBN 978-3-89657-038-3. D: 16,00 EUR, A: 16,50 EUR.
Reihe: BLACK BOOKS.

Weitere Informationen bei DNB KVK GVK.
Inhaltsverzeichnis bei der DNB.

Kaufen beim socialnet Buchversand
Thema und Autor

Das Buch „Vorbeugende Anhaltung. Der Maßregelvollzug – Das Schwarze Loch im Psychiatrieuniversium“ ist eine Abrechnung mit dem System der forensischen Unterbringung: Menschen, denen Schuldunfähigkeit oder eingeschränkter Schuldfähigkeit (§§ 20/21 StGB) attestiert wird, werden statt zu einer Gefängnisstrafe zur Unterbringung in einer psychiatrischen Klinik – der Forensik – verurteilt. Der Autor Dr. Ulrich Lewe ist Psychologe und hat unter anderem als Bezugstherapeut auf einer geschlossenen forensischen Station gearbeitet. Darüber hinaus ist er Mitglied des Fachausschusses Forensik der Deutschen Gesellschaft für Soziale Psychiatrie (DGSP) und tritt als solcher für eine Reform des § 63 StGB ein. Material, das ihm während seiner Dissertation begegnet ist und dort keinen Platz fand, hat er zum vorliegenden Buch verdichtet. Es ist eine im Ton oft polemische Abrechnung mit einem System, in dem er selbst gearbeitet hat und dabei beobachten musste, wie die totale Institution sich ihm und seiner Arbeit einschrieb. Gleichzeitig ist es eine Untersuchung und Kritik der aktuellen Situation, getragen vom Willen, die Situation der Betroffenen zu verbessern.
Aufbau

Inhalt

Vorwort
Willkommen im Willkürstadel
Kann denn Wissenschaft wahnhaft sein? Eine Untersuchung zu den zentralen Glaubensgrundsätzen der forensischen Psychiatrie
Gefährlichkeits-TÜV: Orakelmaschinen und Gutachterei. Über den zweiten Glaubensgrundsatz
Des Kaisers neue Kleider – oder die Frage, ob im Psychoknast gut therapieren ist. Über den dritten Glaubengrundsatz der forensischen Psychiatrie
Das Rinderknecht-Rhizom. Die Frage, ob die Psychiatrie in Deutschland faschismusresistent ist
Dekolonisierung I
Dekolonisierung II
Die hohle Nuss als schwarzes Loch des Psychiatrieuniversums

Glossar und Abkürzungsverzeichnis

Nach dem persönlich gehaltenen Vorwort weist der Autor in den Kapiteln 2–6 nach, dass die Forensische Unterbringung weder ihren eigenen Ansprüchern noch der UN-Behindertenrechtskonvention gerecht wird. In Kapitel 7 und 8 kommen collageartig andere Autor*innen zu Wort: Betroffene, Aktivist*innen, aber auch Reformperspektiven aus Italien und Kanada. Im letzten Kapitel bezieht er sich auf deutsche Autor*innen, um (als Nahziel) Vorschläge für eine Reform der (forensischen) Psychiatrie zu unterbreiten.

Die Zielgruppe des Buchens sind Betroffene:

Betroffene „Untergebrachte“, die ihre Erlebnisse verarbeiten wollen – ob als Aktivismus oder passiv,
Betroffene Angehörige, die verstehen wollen, was ihren untergebrachten Angehörigen widerfährt,
Betroffene Mitarbeitende der Forensik, die als Insassen der totalen Institution das System verstehen wollen, und eine
Interessierte – und von dem, was zu erfahren ist, betroffen gewordene – Öffentlichkeit.

Inhalt

Der Titel des Buches entstammt einer Österreichischen Bezeichnung für Menschen, die im Maßregelvollzug untergebracht werden: Vorbeugend Angehaltene, Menschen, deren Leben präventiv – aufgrund einer unterstellten Gefährlichkeit – angehalten wird. Im Text nennt der Autor die Betroffenen, die von der Justiz als „Untergebrachte“ und in der Forensik als „Patient*innen“ bezeichnet werden, deswegen durchgehend „Angehaltene“.

Die Relevanz des Themas wird allein durch die Zahlen deutlich, die der Autor im zweiten Kapitel referiert: So stehen mittlerweile ¼ der stationären Psychiatrie-Betten in Forensischen Kliniken (S. 14). Während nach den Zahlen des Autors die Quote der Inhaftierten und die Dauer der Inhaftierung sinken, steigt parallel die Zahl der im Maßregelvollzug untergebrachten Menschen und die Dauer der Unterbringungen steigt (S. 17ff) – was der Autor als Beleg für eine gestiegene Punitivität, also „Straflust“ der Gesellschaft interpretiert.

Er zeigt bei Vergleichen innerhalb Deutschlands eine große Willkür auf: So verteilen sich die Zahlen der „Angehaltenen“, Unterbringungsdauern und die Zahl der Beurlaubungen regional sehr unterschiedlich und zum Teil sind die Lockerungen, die „Angehaltene“ erfahren, von (rechtswidrigen) Vereinbarungen zwischen Klinik und Kommune abhängig (S. 29–35). Insgesamt betrachtet er die Unterbringung im Maßregelvollzug als Schlechterstellung gegenüber anderen Sanktionen. Die Dauer der Unterbringung entspricht beispielsweise nicht der Schwere der Tat, sondern einer unterstellten Gefährlichkeit und ist daher nicht abzusehen. Somit widerspricht die forensische Unterbringung der UN-Behindertenrechtskonvention, die eine Schlechterstellung von Menschen mit (auch seelischer) Behinderung verbietet (S. 25 ff.).

In Kapitel 3 setzt sich Lewe mit drei Glaubensgrundsätzen der Forensik auseinander:

Der Verrückte ist gefährlicher als der Normale.
Die Gutachterei ist Wissenschaft und keine Spökenkiekerei.
Im Psychoknast ist gut Therapieren (S. 41).

Dafür konzentriert er sich auf schizophren etikettierte Menschen, unter anderem, weil ihr Anteil an forensisch „Angehaltenen“ seit 1990 überproportional gestiegen ist (ebd.).

Für diese Auseinandersetzung macht er einen Exkurs und verortet die Ursprünge der „Kartographierung der Seelenlandschaft“, wie er die psychiatrische Diagnostik und Gefährlichkeitsprognostik nennt, in der spanischen Inquisition und ordnet sich mit Bezug auf Klaus Theweleit und Stefan Weinmann in eine kritische Denktradition ein (S. 42–44).

Im nächsten Unterkapitel nimmt der Autor die Leser*innen in die Welt der Daten mit. Zunächst untersucht er einen Zusammenhang zwischen psychischer Störung und Delinquenz und findet einen Gender-Bias und eine Handvoll kriminologischer „attributable risks“, die die Straffälligkeit besser prognostizieren können als die psychiatrische Diagnostik. Diese monokausale Zuordnung von einer psychiatrischen Diagnose zu einer Delinquenz wird noch haltloser, wenn man die biographische und gesellschaftliche Historizität in Rechnung stellt. Die Betroffenen zahlen dafür einen hohen Preis. (S. 44–47). In einem Exkurs wirft er einen Blick in die Boulevardpresse und weist nach, dass dort Statistiken aus dem Zusammenhang gerissen werden. Für Körperverletzungen kommt er beispielsweise zu dem Schluss, „dass die Verrückten sich bei dieser Deliktart ziemlich normal verhalten“ (S. 49).

Im Gegenteil, so weist Lewe im nächsten Abschnitt nach, sind schwer psychisch kranke Menschen einer viel höheren Gefährdung ausgesetzt, Opfer von Gewalt zu werden – und sind gleichzeitig unterdurchschnittlich gefährlich. Ein geschichtlicher Abriss weist nach, dass die Diagnose und Therapie häufig lebensgefährlich war: Vom Verhungernlassen in den Anstalten im ersten Weltkrieg über die Zwangssterilisierungen und Morde des deutschen Faschismus und Verlegungen mit Todesfolge im Rahmen von Reformen im Anschluss an die Psychiatrie-Enquête bis hin zu Morden an Heimbewohner*innen in den vergangenen Jahrzehnten (S. 54–55).

Aktuell sind schwer psychisch kranke Menschen durch soziale Exklusion und gesundheitliche Risiken bedroht, außerdem werden sie häufiger Opfer von Körperverletzungen, Unfällen und Tötungsdelikten sowie Suiziden: Ihre Lebenserwartung ist um über 14 Jahre verringert (verglichen mit dem Durchschnitt der Bevölkerung) und sie sterben häufiger eines unnatürlichen Todes (S. 56–57).

Daraufhin untersucht Lewe unter der Überschrift „Wie bastle ich mir einen gefährlichen Irren?“ die wissenschaftliche Literatur zum Thema Forensik. Dabei weist er einer Ko-Autorin der „Standards für die Behandlung im Maßregelvollzug“ unredlichen Umgang mit wissenschaftlichen Quellen nach. Zahlen würden aus dem Zusammenhang gerissen, die Schlussfolgerungen der Quellen und anderslautende Untersuchungen ignoriert und andere Faktoren als die psychiatrischen Diagnosen komplett unter den Tisch fallen gelassen. So stellten die Standards die Gefährlichkeit von schizophren etikettierten Menschen deutlich überhöht dar, um die Existenz forensischer Einrichtungen zu rechtfertigen – aber ebenso gut könnte man einen Knick-Senk-Spreizfuß, der im jungen Erwachsenenalter auftritt, mit Delinquenz korrelieren und darauf aufbauend eine „Forensische Orthopädie“ (S. 64) begründen (vgl. S. 59–67).

Anhand weiterer Studien und eigener Berechnungen, die der Autor einschließlich der zugrundeliegenden Zahlen nachvollziehbar darstellt, kommt er zu dem Schluss, dass einerseits die Behauptung, schizophren etikettierte Menschen seien gefährlich, so klar nicht belegt werden kann (z.B. fallen Gender-Bias und Alters-Bias groß aus, gleichzeitig werden meist andere, bspw. soziale Faktoren – Confounders – nicht mit untersucht). Gleichzeitig sind schizophren etikettierte Menschen ihrerseits gefährdeter, Gewalt zu erfahren und getötet zu werden. Außerdem erfahren sie durch Stigmatisierungen, aber auch konkret durch Justiz und Forensik ein viel größeres Leid als die Gesellschaft vermeintlich durch sie (S. 67–79).

Im vierten Kapitel beschäftigt sich Lewe mit forensischen Gutachten. Der Unterbringung liegen einerseits die Schuldunfähigkeit bzw. verminderte Schuldfähigkeit, andererseits die anhaltende Gefährlichkeit der Angeklagten zugrunde. Diese Bewertung treffen Gerichte aufgrundlage von Gutachten (S. 88). Zunächst untersucht Lewe algorithmenbasierte Vorhersagen, deren Veröffentlichungen ihm als Werbung erscheinen – wobei finanzielle Interessen von den Autor:innen zumeist nicht angegeben werden. Er empfiehlt als Alternative mit OxRisk ein kostenloses Risk-Assessment-Programm, das nach den zugrundegelegten Kennzahlen besser abschneidet als die beworbenen kommerziellen Produkte und zititert gleichzeitig die Einschränkung der Autor:innen, dass das Instrument bei der Bewertung einzelner Individuen zu ungenau ist (S. 92). Für ein Instrument mit einer Spezifität und Sensitivität von je 0,7 – gängige Werte in dem Bereich, die Begriffe erklärt der Autor genauer – rechnet Lewe vor: Um eine einzige Person zu sichern, die tatsächlich für die Gesellschaft gefährlich werden könnte, werden fünf ungefährliche Personen ebenfalls eingesperrt (S. 96).

Aber vielleicht kommen die Gutachten, die Psychiater:innen nach Gesprächen mit den „Angehaltenen“ zu besseren Ergebnissen? Dieser Frage widmet sich Lewe im nächsten Abschnitt. Ein experimentelles Design zum Vergleich von Rückfallquoten unter verschiedenen Prognosen kann nicht gezielt vorgenommen werden, aber historische Ereignisse, in denen forensisch untergebrachte Personen unabhängig von ihrer Legalprognose entlassen wurden, gab es und sie wurden wissenschaftlich untersucht. Dabei ergab sich beispielsweise, dass über vier Fünftel der als gefährlich untergebrachten Menschen nach ihrer Entlassung nicht rückfällig wurden. Außerdem ist die Rückfalldelinquenz bei Entlassung aus dem stationären Setting höher als aus dem ambulanten Setting, den entscheidenden Unterschied macht offenbar der soziale Empfangsraum. Alles in Allem rät Lewe, den Gutachten genauso zu misstrauen wie den Prognoseinstrumenten (S. 99–103).

Im nächsten Abschnitt untersucht Lewe, wie wichtig die Forensik als Wirtschaftsfaktor ist. Offensichtlich sichert sie Justizangestellten, Gutachter:innen und Mitarbeiter:innen der Forensik ihren Lebensunterhalt, aber auch Bau und Unterhalt der Einrichtungen sind nicht zu vernachlässigen: Er überschlägt, dass pro untergebrachter Person 1,5 Menschen beschäftigt werden. Im Fortgang des Kapitels weist er nach, wie wirtschaftliche Abhängigkeiten wirken: Beispielsweise fällt das Ergebnis eines Gutachtens unterschiedlich aus, je nachdem, ob das Gericht oder die Verteidigung es bestellt. Auch haben Richter:innen oder Mitarbeitende die Möglichkeit, beispielsweise durch die Wahl der Gutachter:innen das Ergebnis schon im Voraus zu beeinflussen. Und auch habituelle Unterschiede zwischen Untergebrachten und Gutachter:innen drücken das Machtgefälle aus, in dem sie sich befinden (S. 105–120).

Unterstellt, dass die Menschen in Forensischer Unterbringung tatsächlich aufgrund ihrer Erkrankung straffällig geworden sind, und unterstellt, dass sie tatsächlich aufgrund der Erkrankung für die Gesellschaft gefährlich sind untersucht Lewe im nächsten Kapitel „die Frage, ob im Psycho-Knast gut therapieren ist“ (S. 126). Dabei verweist er zunächst darauf, dass Hospitalisierung bzw. Prisonisierung im Gegenteil weitere Probleme erst entstehen lassen. Und selbst unter der Maßgabe, dass die Unterbringung in einer Klinik den „Angehaltenen“ – verglichen mit einer Strafe – zugutekommen sollte, gibt Lewe mit den Worten des Oxford Handbook of Criminology zu bedenken: „Wenn psychisch gestörte Straftäter aus Gründen der Wohltätigkeit als spezielle Gruppe behandelt werden, setzt sie das in einer Zeit, in der der Wechsel zu risikobasierter Aburteilung die Politik dominiert, einer härteren Behandlung aus“ (Peay, 2007, zit. n. S. 126).

Im ersten Unterkapitel beschäftigt sich der Autor einerseits mit den Kosten und andererseits mit den Ergebnissen der Forensiken, die erstaunlicherweise nicht gut untersucht sind. Er nimmt dabei die medikamentöse Behandlung unter die Lupe und kommt zu dem Schluss, dass die gängige Praxis, Menschen nicht zu entlassen, wenn sie keine Psychopharmaka nehmen, wissenschaftlich nicht zu halten sei (S. 127–129).

Die Ergebnisse einer (kleinen) Studie zum Behandlungserfolg und Patient:innenzufriedenheit nach vier Jahren Unterbringung vergleicht er mit einer kleinen Studie einer allgemeinpsychiatrischen stationären Behandlung, wo vergleichbare Ergebnisse bereits nach 24 Tagen der Behandlung erzielt wurden. Dabei verweist er immer wieder auf die vorher gefundene Feststellung, dass forciert Entlassene (ohne positive Legalprognose) nicht stärker rückfällig werden als regulär Entlassene oder Entlassene aus dem Strafvollzug (S. 127–133). Untersuchungen der Korrelationen zwischen Personalausstattung der Kliniken und Kennzahlen des Maßregelvollzugs (Entlassungen, Beurlaubungen, Zwangsmaßnahmen) lassen keine klaren Trends erkennen. Allerdings meint Lewe, in den Zahlen eine Reaktanz von Trägern und Leitungen auf die Reform der Verhältnismäßigkeit 2016 zu erkennen (S. 134–138). [1]

Im nächsten Kapitel mit dem an Kafka erinnernden Titel „In der Strafkolonie“ geht es um die „Kolonisierung“ der Angehaltenen (S. 139). Zeitversetzt zur De-Institutionalisierung von Teilen der Psychiatrie durch die Psychiatrie-Enquête bemerkt Lewe einen gegenläufigen Prozess der Exklusion durch die Forensik. Mit Foucault ordnet der Autor die Psychiatrie und die Forensik historisch in Entwicklungen der Industrialisierung ein und spart – im Rückgriff auf Dörner und Jantzen – den Faschismus in Deutschland nicht aus. Eine Anekdote aus seiner eigenen theaterpädagogischen Arbeit mit „Angehaltenen“ leitet ins nächste Unterkapitel über (S. 139–142).

Dort weist er nach, dass die Konstruktion der Schuldunfähigkeit auf eine Entmündigung hinausläuft – obwohl die meisten Untergebrachten kurz nach der Tat erkennen, dass sie Unrecht getan haben. Straftäter:innen, die das – als psychische Schutzfunktion – nicht anerkennen, sitzen im Strafvollzug ihre Strafe genauso ab. In der Forensik hingegen führt mangelnde Strafeinsicht zur Verlängerung der Unterbringung (S. 143). Dazu kommt, dass die Unterstellung einer Schuldunfähigkeit häufig in ein, wie Lewe es nennt, „soziales Koma“ (S. 144) führt.

Die Schuldunfähigkeit aufgrund einer Erkrankung findet eine biologische Ursache für Reaktionen auf soziale Situationen und schiebt sie völlig den Betroffenen zu. Die Unterbringung in einer totalen Institution reißt die Betroffenen dann aus ihren sozialen Gefügen und verfestigt als Hilfe und Fürsorge ihre Lage (ebd.). Eine Psychose kann dann möglicherweise als Flucht aus der sozialen Isolation durchaus angenehmer erscheinen als die Realität der Forensischen Klinik (S. 145).

Im Folgenden wirft er einen Blick darauf, wer die Diagnose „Psychopathie“ zugeschrieben bekommt: Entscheidend sei „die Klassenzugehörigkeit“ (S. 146). Darauf beschreibt Lewe Überlebensstrategien und Zwangsmaßnahmen in der Forensik (beispielsweise Isolierung, im Extremfall mehr als ein Jahr). Auf die Doppelrolle, das Forensik-Mitarbeitende als „Schließer und Therapeut“ (S. 146) haben [2], lässt er in einem collagierten Interview Sigmund Freud antworten und lehnt den Sicherungsauftrag als unvereinbar mit der Therapeutenrolle ab (S. 147). Und warum gibt die Gesellschaft so viel Geld für ein offenbar nutzloses System aus? Ebenfalls collagiert antwortet Karl Marx, dass der Nutzen des Systems dann wohl nicht in der Therapie der Betroffenen, sondern in seiner Wirkung auf den Rest der Gesellschaft liege (S. 153–154).

Im sechsten Kapitel „Das Rinderknecht-Rhizom“ wechselt der Tonfall noch einmal. In Anlehnung an die Methodik des Rhizoms nach Deleuze und Guattari (S. 160) sammelt und assoziiert Lewe Schnipsel und Fragmente, um Vernichtungs- und Absonderungstendenzen in den Vorläufern der heutigen Psychiatrie aufzuspüren. Er findet eine prinzipielle Anfälligkeit für autoritäre Entwicklungen und beschreibt exemplarisch eine berührende Fallgeschichte eines Patienten, wo die zugeschriebene paranoiden Psychose im lebensgeschichtlichen Kontext einen Sinn als Verarbeitung von familiengeschichtlichen NS- und eigenen Autoritätserfahrungen bekommt.

Auch in dieser Geschichte erkennt Lewe ein Versagen der Psychiatrie (S. 168). Außerdem vergleicht er Deutschland im internationalen Kontext: Hier gibt es im europäischen Vergleich die höchsten Raten an Heimunterbringungen und sehr viele Zwangseinweisungen, hohe Zahlen an forensisch Untergebrachten und eine hohe Unterbringungsdauer. Rhizomatisch assoziiert Lewe Regelungen zur Schuldunfähigkeit, die auf das „Gewohnheitsverbrechergesetz“ von 1934 zurückgehen mit Täter- oder Tatstrafrecht (S. 170), aktuelle Debatten über Folter mit Zwangsmaßnahmen wie Elektroschocks und Isolation (die auch vom CIA als Foltermethoden untersucht wurden), Gefährder in Polizeiaufgabengesetzen mit Rückfallprognosen. Sein Fazit ist, dass Psychiatrien „aktiver Teil dieser autoritären und restaurativen Rechtsentwicklung“ sind und schließt dieses Kapitel mit einem Zitat von Basaglia und Basaglia-Onaro.

Die nächsten zwei Kapitel widmen sich der Dekolonisierung. Unter der Überschrift „Die Kraft der Schwachen“ bringt Lewe wiederum collageartig seine Rezension eines Buches einer Angehörigen, die für ihren forensisch untergebrachten Bruder kämpft und den Erfahrungsbericht einer psychiatrie-erfahrenen Frau, die nach einer Abwärtsspirale von Stalking, Verleumdung und Stigmatisierung für ein halbes Jahr in der Forensik landete (S. 178–192). Er zitiert Berichte eines Mitglieds der Besuchskommission, die über die Jahre der Erfahrung in dieser Rolle immer kritischer und immer eindringlicher werden (S. 193–210). Und er wirft einen Blick auf den Strafvollzug mit der eigenen Rezension eines Buchs von Thomas Galli und dem Erfahrungsbericht eines Strafgefangenen (S. 210–216). Den Abschluss dieses Kapitels bilden Gedichte aus der Forensik, die hier unter Pseudonym unter dem Titel „Souls for Sale“ veröffentlicht werden (S. 216–223).

Kapitel acht wirft einen Blick über den nationalen Tellerrand und dokumentiert mit einem Beitrag einer Aktivistin und dem Bericht über die Folgen der Reformen die Lage in Italien (S. 230–257). Es folgt eine kurze Beschreibung der „Circles of Support and Accountability“, in denen kanadische Mennoniten Sexualstraftäter in die Gesellschaft integrieren und begleiten – mit sehr guten Ergebnissen für die Betroffenen wie für die Gesellschaft (S. 258–260).

Im knappen letzten Kapitel zitiert Lewe juristische und gemeindepsychiatrische Perspektiven zu einer möglichen Reform des Systems der Forensik, die auf einer Trennung von Sicherungs- und Behandlungsaufgaben und einer guten psychiatrischen Versorgung auch in Haftsituationen sowie der absoluten Freiwilligkeit der Therapie beruhen.
Diskussion

Der Autor nimmt die Leser:innen mit auf eine schauerliche Reise in das „schwarze Loch im Psychiatrie-Universum“. Dabei ist der polemische Ton und der zynische Humor angesichts des Themas zwar gewöhnungsbedürftig, aber nicht unangemessen. Das Buch ist abwechslungsreich geschrieben: Nach einer Positionsbestimmung versucht der Autor, wissenschaftliche und statistische Verfahren auch für Laien nachvollziehbar zu machen. Später wird der Text assoziativer und gegen Ende geradezu collageartig, indem der Autor Betroffenenberichte und Diskursbeiträge ins Buch einbindet. Der Autor selbst nimmt dabei eine Perspektive der Sozialpsychiatrie zwischen Wissenschaft und Aktivismus ein und nähert sich dabei der Forderung: Nothing about us without us.

Lewe kritisiert das System Forensik in seinen Grundfesten, ohne allerdings auch das System von Strafen, Justiz und Gesellschaft zu hinterfragen, wie dies beispielsweise im Sammelband von Malzahn (2018, S. 94) aus demselben Verlag geschieht. [3] An einigen Stellen gibt es Ansätze für eine solche Weiterführung, etwa wenn er mit Foucault und Marx das Strafsystem historisch und gesellschaftstheoretisch einordnet. Diese Ansätze verfolgt der Autor aber nicht weiter. Stattdessen beruft er sich auf den Diskurs der UN-Behindertenrechtskonvention und greift das System Forensik insofern sowohl moralisch als auch juristisch als illegitime Diskriminierung von psychisch kranken Menschen an.

Der Autor konzentriert sich auf schizophren etikettierte Menschen, die nach § 63 StGB forensisch untergebracht sind. Diese Fokussierung ist nachvollziehbar, lässt aber Lücken im Hinblick auf die Rolle der Forensik im Bereich der suchtkranken Personen. Hier bleibt offen, wie der Vergleich zwischen Strafhaft und forensischer Unterbringung (die nach § 67d StGB maximal zwei Jahre betragen darf) für die Betroffenen ausfällt. Gleichzeitig wandelt sich die Belegung forensischer Kliniken: Bei rückläufigen Zahlen für §-63-Untergebrachte steigt die Zahl der nach § 64 untergebrachten suchtkranken Menschen, sodass insgesamt die Zahl der Menschen im Maßregelvollzug steigt. Insofern diskutiert das Buch nur einen Teil des „Universums Forensik“.

Für die betrachtete Gruppe rüttelt Lewe an dem Paradigma, dass die Gefährlichkeit der Betroffenen aus ihrer psychiatrischen Erkrankung (mono-)kausal begründet werden kann und die (oft medikamentöse) Therapie in Verbindung mit dem Setting der Totalen Institution diese Gefährlichkeit reduzieren kann. Aus sozialpsychiatrischer Perspektive plädiert er für freiwillige Behandlung und ggf. sichernde Begleitung im ambulanten Setting. Gleichzeitig verweist er auf Beharrungskräfte eines (ähnlich wie die Strafhaft: vordergründig nicht sehr erfolgreichen) Systems einerseits in gesellschaftlichen Funktionen und andererseits im Selbstverständnis und wirtschaftlichen Interesse der professionellen Akteur*innen.

Stattdessen fordert er eine absolute Freiwilligkeit psychiatrischer Behandlungen. Das ist nachvollziehbar aus der Perspektive der Betroffenen, die – wie er sehr eindrücklich aufzeigt – unter Zwang und Hospitalisierung leiden. Es ist aber auch nachvollziehbar aus der Perspektive der Mitarbeitenden, die möglicherweise die Arbeit in der Totalen Institution nicht mit ihren privaten Werten und ihrem beruflichen Ethos verbinden können (vgl. Goffman, 2018, S. 94). Damit verlagert er den Zwang allerdings in den Bereich des Strafvollzugs.

Offen bleibt für mich, welche Auswirkungen die Reform der Verhältnismäßigkeit im Jahr 2016 auf die §-63-Patienten hat. Im Rahmen eines Praktikums in einer bayerischen Forensischen Ambulanz habe ich mehrere Menschen kennengelernt, die nach langjährigen Unterbringungen aufgrund der Verhältnismäßigkeit entlassen und im lebensweltlichen Setting nachbetreut wurden. Hier spricht Lewe vage von einer Reaktanz der Institutionen (S. 135–139), die mir kein deutliches Bild gibt. Auch an anderen Stellen hätte ich mir in Kleinigkeiten eine sorgfältigere Argumentation gewünscht: Beispielsweise fehlt eine Erklärung, warum Delinquenz bei Medikation sinkt, aber nicht komplett auf 0. Vielleicht hätte das aber auch den Rahmen des Buches gesprengt – sowohl an Umfang, als auch an Aufwand des Verfassens.

Meine Eindrücke aus erwähntem Praktikum sind im Übrigen anschlussfähig an den Tenor des Buches. Beispielsweise orientieren sich die Lockerungen (also die schrittweise Wiedererlangung der Handlungs- und Bewegungsfreiheit bis hin zur Beurlaubung), Verlegungen auf andere Stationen und Entlassungen nicht nur daran, welcher Therapieverlauf den (in dem Fall nur männlichen) Patienten zugeschrieben wurde, sondern auch an der (Über-)Belegung der Stationen. 3-Bett-Zimmer, die mit 4 Patienten belegt waren, waren die Regel. Andererseits kontrastiert die Arbeitsweise der (Nachsorge-)Ambulanzen mit den Totalen Institutionen der Forensischen Kliniken.

Im Rahmen des Praktikums hat mir mein Mentor, der Leiter der Ambulanz, ein Positionspapier der Deutschen Gesellschaft für Soziale Psychiatrie (DGSP) vorgelegt. Er war empört über die Forderung der DGSP, die Forensik abzuschaffen und das Personal im Strafvollzug arbeiten zu lassen. Das war mit seinem Selbstverständnis als professionell Helfender nicht vereinbar. Damals war ich angesichts des Positionspapiers recht ratlos: Wie sollte der Strafvollzug die bessere Wahl für die Betroffenen wie für das Personal sein? Verbunden mit der Forderung nach besserer medizinischer und psychiatrischer bzw. psychologischer Versorgung leuchtet mir diese Forderung nach der Lektüre dieses Buches eher ein.

Insofern ist das Buch trotz kleinerer Schwächen ein hilfreicher, wichtiger und unbedingt parteilicher Beitrag zu einer Debatte, die dringend geführt werden sollte. Ich habe es mit großem Gewinn gelesen.
Fazit

Das Buch analysiert die Zustände in forensischen Kliniken für Untergebrachte nach § 63 StGB und insbesondere für Menschen, denen Schizophrenie diagnostiziert wurde. Es thematisiert schwerwiegende Fehlentwicklungen und fordert mindestens eine Reform, möglicherweise aber auch eine Abschaffung der forensischen Unterbringung. Ein spannender Diskussionsbeitrag, der sich vorbehaltlos für die Rechte der Untergebrachten einsetzt.

[1] Damals wurde § 67d Abs. 6 StGB reformiert, sodass eine Vielzahl von Menschen aus Gründen der Verhältnismäßigkeit auch aus forensischer Unterbringung entlassen wurden (oder hätten werden sollen).

[2] analog zum doppelten Mandat in der Sozialen Arbeit

[3] vgl. die Rezension von Helmut Kury unter https://www.socialnet.de/rezensionen/​24761.php
Die Illusion der Demokratie lebt von der Vertuschung staatlicher Rechtsbrüche, und leider verliert sich selbst die Standfestigkeit ursprünglich integerer Persönlichkeiten allzu oft in den Sümpfen der Politik.
Antworten