MauriceMüller hat geschrieben: ↑Donnerstag, 29. Mai 2025, 21:07:26
[... ] Könntest du kurz erläutern, wie du zu diesen Schlussfolgerungen gekommen bist
Der 1. Anruf kam wenige Stunden, nachdem die Paderborner Polizei die Aufnahme von Ermittlungen bekannt gab und auch bereits das erste Ergebnis dieser Ermittlungen (den Absendeort der 1. SMS) öffentlich präsentierte.
Wir wissen heute, dass die Polizei bereits diesen ersten Anruf als Entwarnung auffasste und faktisch die Ermittlungen einstellte. Das aber wurde während Fraukes Entführung nie öffentlich kommuniziert. Ein Täter, der sich nur über die Medien hätte informieren können, hätte von dieser Einschätzung der Polizei nichts erfahren können.
In diesem Fall hätte der Täter also damit rechnen müssen, dass die Polizei die Ermittlungen fortsetzte. Ihm konnte nicht entgangen sein, dass Frauke während des Anrufs benommen wirkte und schleppend sprach, die Überzeugungskraft dieses ersten Anrufs also durchaus fragwürdig war.
Dennoch folgten weitere Anrufe. Alle fanden in Industrie- bzw. Gewerbegebieten an der Peripherie Paderborns mit schnellem Zugang zur B 64 statt. Dieses Muster wurde mit jedem Anruf deutlicher.
Doch damit nicht genug: Während der Täter für die ersten drei Anrufe (Donnerstag, Freitag und Samstag) jeweils ein anderes Industrie- bzw. Gewerbegebiet aufsuchte, kehrte er für das 4. und 5. Telefonat (Sonntag und Dienstag) in die Nähe der Stelle zurück, wo bereits der 2. Anruf stattfand.
Wenn die Polizei weiterermittelt hätte, hätte der Täter spätestens beim letzten Anruf (der zudem noch deutlich länger war als die vorausgegangenen) in der Falle gesessen.
Liegt der ernsthafte Verdacht auf eine Entführung vor, stehen den Ermittlungsbehörden weitreichende Kompetenzen zu und sie verfügen über erhebliche Ressourcen, die beileibe nicht auf die der lokalen Polizeibehörde beschränkt sind. So wären Fraukes Telefon überwacht, die Gespräche aufgezeichnet und von Spezialisten des LKA ausgewertet worden. Nach meiner Ansicht kann es keinen Zweifel daran geben, dass diese Ergebnisse den Verdacht auf eine Entführung bestätigt hätten.
Da es keine Lösegeldforderung gab, hätte die einzige Möglichkeit zur Befreiung Fraukes in einem Zugriff der Polizei bestanden – und diese Aufgabe wäre sicher nicht von der Paderborner Polizei, sondern von einer für solche Einsätze ausgebildeten Spezialeinheit übernommen worden.
Warum also hätte ein Täter, der doch offenbar darauf bedacht war, der Polizei zu entgehen, sich durch diese Anrufe und die verräterische Standortwahl derart der Polizei ausliefern sollen?
Aufschlussreich wird es nach meiner Ansicht, wenn man die Anrufe in zeitliche Relation zu dem Verhalten der Paderborner Polizei setzt.
Der 1. Anrufe ließ den Verdacht der Polizei auf eine Entführung schon deutlich schwinden, aber mit dem 3. Anruf war für sie die Sache erledigt. In dem Stern-Interview (Printausgabe) sagte Östermann über diesen 3. Anruf am Samstag: „Wenn es bei der Polizei vielleicht noch den Verdacht gab, die Frauke werde festgehalten, dann wurde er durch diesen Anruf tagsüber weiter abgeschwächt.“
Nach diesem Anruf am Samstag gab der Täter sich keine Mühe mehr, neue Orte für die Telefonate auszusuchen, sondern fuhr für das 4. und 5. Gespräch in die unmittelbare Nähe jener Stelle, wo das 2. Telefonat geführt worden war.
Öffentlich ließ die Polizei zwar nichts verlauten, aber Fraukes Angehörigen gegenüber machte die Polizei keinen Hehl daraus, dass sie nicht länger von einer Entführung ausging.
So berichtete Ingrid Liebs, sie sei von einem Beamten sehr barsch angefahren worden: Was sie denn wolle, ihre Tochter habe sich gemeldet. Zu ihrer Angst um Frauke kam für Chris und Fraukes Familie die Verzweiflung, von der Polizei im Stich gelassen zu werden.
Ein Täter, der sich in diesen Tagen die Gelegenheit hätte verschaffen können, beispielsweise mit Chris unauffällig zusammenzutreffen, hätte durchaus - ohne Verdacht zu erregen – von dieser Entwicklung erfahren können. Chris und Fraukes Familie waren von dem Wechsel zwischen Hoffnung und Verzweiflung aufgewühlt, und da Fraukes Verschwinden öffentlich bekannt war, gab es sicher oft Fragen und Anteilnahme.
Für den Täter stand seine gesamte Existenz auf dem Spiel, und deshalb war er nach meiner Ansicht bei einer Fortsetzung seiner Anrufe dringend auf zuverlässige – und d. h. auch aktuelle – Informationen angewiesen.
Ein „Wissen“ aus zweiter oder dritter Hand durch Leute aus Fraukes Bekanntenkreis hätte ihm eine solche Zuverlässigkeit nicht bieten können. Chris hingegen war derjenige, der angerufen wurde und auf dessen Eindruck es ankam, weil er seine Wahrnehmungen der Polizei schilderte. Er erfuhr die Reaktionen der Polizei unmittelbar und stand in engstem Austausch mit Fraukes Familie.
Hätte die Polizei weiterermittelt, wären Chris und Fraukes Familie sicher nicht über Ermittlungsdetails informiert worden – aber allein diese Information wäre für den Täter sehr wichtig gewesen, und ich glaube nicht, dass es dann weitere Anrufe gegeben hätte.
Wie sehr ich auch alles drehen und wenden mag, ich komme immer wieder zu dem Schluss, dass der Täter gewusst haben muss, dass ihm bei den letzten Anrufen keine aktuelle Gefahr durch die Polizei drohte.