Lento hat geschrieben: ↑Samstag, 09. August 2025, 22:57:31
Ich hatte doch schon gemeint, dass wir hier nicht zusammenkommen. …
Immerhin sind wir uns nun auch darin einig, dass die Zuständigkeit des BGH begrenzt ist. Über die Grenzen des geltenden Prozessrechts hinausgehen muss der BGH nicht. Ob er es in besonders gelagerten Fällen darf, ist eine andere Frage. Hier kommt die Rechtsfortschreibung durch höchstrichterliche Instanzen, das sogenannte Richterrecht ins Spiel.
Aufgrund der Gewaltenteilung darf das Recht durch höchstrichterliche Rechtsprechung nur bei
Lücken im Gesetz oder (durch Auslegung) zur
Konkretisierung bestehender Gesetze fortgeschrieben werden. Gesetze
korrigieren darf die Rechtsprechung nicht; diese Aufgabe kommt allein der Legislative zu, nicht der Judikative.
Fischers fiktives Beispiel zum Fall des Bauern Rupp beschreibt die zugrundeliegende Problematik recht gut (unterscheidet sich im Detail jedoch erheblich von einer Haftprüfung). Im Fall Alexandra R. aus Nürnberg hätte eine solche Fallkonstellation durchaus eintreten können (Thread im HET siehe
hier).
In dem skizzierten Fallbeispiel müsste die Verurteilung erst in Rechtskraft erwachsen und dann vom unschuldig Verurteilten die Wiederaufnahme des Verfahrens (§
359 StPO) betrieben werden – ein aufwendiger und vor allem langwieriger Verfahrensweg. Unnötigerweise wäre ein erwiesenermaßen Unschuldiger sehenden Auges dem Status eines rechtskräftig Verurteilten ausgesetzt. Nach der Identifizierung des Totgeglaubten läge sofort ein zweifelsfreies Ergebnis vor, das nach geltender Rechtslage erst in einer neuen Tatsacheninstanz festgestellt werden muss. Ein Federstrich contra ein aufwendiges Verfahren. Krasser könnten die Gegensätze nicht sein. Sollten Laien diese Logik für finalen Wahnsinn halten, könnte ich dem nur zustimmen. Streng genommen aber liegt in einem solchen Fall keine Regelungslücke vor, weil die StPO auf ein Wiederaufnahmeverfahren verweist. Darüber, ob nun unter der Maxime eines effektiven Rechtsschutzes und des Persönlichkeitsrechts nicht vielleicht doch eine Lücke im Gesetz vorliegen könnte, kann trefflich gestritten werden. Die Gewaltenteilung als Kern unserer Verfassung darf jedoch nicht angetastet werden.
Bei einer Haftprüfung wie im Fall Hanna hingegen kann nicht davon ausgegangen werden, dass sich die für eine Prüfung der Verhältnismäßigkeit der U-Haft relevanten Tatsachen mit vergleichbarer Blitzgeschwindigkeit entflechten und kausal zurechenbar feststellen lassen. Die Komplexität hatte ich in meinem letzten
Beitrag aufgezeigt. Die Prüfung zu beschränken auf „Zeiten, die ohne Beweisaufnahme als sicher gelten“, um eine Entscheidung „im Minutenbereich“ treffen zu können, und alle anderen Faktoren auszuklammern, halte ich angesichts der komplexen Vielschichtigkeit und der gegenseitigen Abhängigkeiten der Faktoren für grob rechtsfehlerhaft.
Eine Gesetzeslücke kann ich nicht darin erkennen, dass die Haftprüfung ausdrücklich der Tatsacheninstanz zugewiesenen ist. Diese Aufgabe fällt nicht dem BGH zu und eine unverhältnismäßig lange U-Haft kann auch nicht mit der Revision zum BGH gerügt werden. Die Fallkonstellationen in Fischers Beispiel und bei der Haftfrage im Fall Hanna unterscheiden sich erheblich und sind nicht miteinander vergleichbar. Damit dem BGH hinsichtlich einer Haftprüfung im Revisionsverfahren eine Erweiterung seiner bisherigen Kompetenzen ausdrücklich gestattet und vor allem auch geboten wäre, bedürfte es einer Reform des Strafprozessrechts.
Lento hat geschrieben: ↑Samstag, 09. August 2025, 22:57:31
… Wir streiten über die Frage, ob der BGH über seine Aufgabe hinaus Entscheidungen treffen muss, wenn Grundrechtsverletzungen durch die Entscheidung entstehen/sichtbar werden. …
Zu den Grundrechten eine ganz grundsätzliche Bemerkung:
Die Grundrechte sind immer und überall zu wahren, wo staatliches Handeln in Erscheinung tritt. In der Justiz sind davon alle Gerichte im Rahmen ihrer jeweiligen Zuständigkeiten und Aufgaben betroffen, nicht nur der BGH. Dies gilt auch für die Tatsacheninstanz bei der Haftprüfung. Nur wenn hier Fehler unterlaufen, kann es erforderlich werden, das BVerfG anzurufen.
Fragen, für die ein Gericht nicht zuständig ist, hat das Gericht nicht zu prüfen – weder nach einfachem Recht noch nach verfassungsrechtlichen Maßstäben. Ein Familienrichter etwa darf nicht über die Aufhebung eines verwaltungsrechtlichen Verwaltungsakts entscheiden; dies fällt in die Zuständigkeit der Verwaltungsgerichte. Der Schuster urteilt nicht über die Arbeit des Bäckers. Ebenso zählt die Haftprüfung nicht zu den Aufgaben des BGH.
Lento hat geschrieben: ↑Samstag, 09. August 2025, 22:57:31
… Der Aufwand einer Verfassungsbeschwerde wäre sicher zu hoch. …
Eine Verfassungsbeschwerde beim BVerfG zu erheben, ist kein Hexenwerk. Nicht einmal anwaltliche Vertretung ist vorgeschrieben. Jedermann darf sich jederzeit an das BVerfG wenden, wenn er seine Grundrechte verletzt sieht und der Rechtsweg erschöpft ist. Das Verfahren ist gerichtskostenfrei. (Falls allerdings grober Bullshit vorgetragen wird, kann das BVerfG eine sogenannte Missbrauchsgebühr verhängen. Dies geschieht gegenüber Herrn und Frau Jedermann nur selten, bei anwaltlich hemdsärmeliger Vertretung solcher Jedermänner häufiger.) Um das Risiko, dass die Verfassungsbeschwerde vom BVerfG gar nicht zur Entscheidung angenommen wird, zu minimieren und um die Erfolgsaussichten zu steigern, ist dringend zu raten, sich von einem im Verfassungsrecht erfahrenen RA vertreten zu lassen.
Dies ist der vorgegebene Weg, um eine Grundrechtsverletzung anzugreifen, die der Tatsacheninstanz im Rahmen der Haftprüfung unterlaufen sein könnte. Eine etwaige Verletzung von Grundrechten liegt in der Entscheidung der Tatsacheninstanz und nicht in der Entscheidung des BGH über die Aufhebung eines Urteils, das über die U-Haft gar nicht entschieden hatte. (Die Entscheidung über die Aufrechterhaltung der U-Haft musste im Zuge der Verurteilung in einem separaten Beschluss ergangen sein.)
Mittlerweile sind wir vom eigentlichen Thema, dem Fall Hanna, ganz schön weit abgedriftet. Ich hoffe, dass sich die „nur“ am Fall interessierten Mitleser dadurch nicht langweilen.