„Eiskeller“-Prozess startet neu
Mordurteil mit drastischen Fehlern – und die Polizei attestiert sich „hervorragende Arbeit“
Der „Eiskeller“-Mordprozess … muss wegen grober Fehler neu aufgerollt werden. Nur ist der dringende Tatverdacht gegen … Sebastian T. komplett entfallen. Anatomie eines aufsehenerregenden Falls.
Was, wenn sich alle geirrt haben? Die Kriminalpolizei …, die Staatsanwaltschaft … und die 2. Jugendkammer …, … [die] Sebastian T. … wegen Mordes … verurteilte?
Das Gericht befand ihn schuldig, … Hanna W. ermordet zu haben. … Die Verteidigung legte … Revision ein und war damit erfolgreich. Der Bundesgerichtshof … hob das Urteil auf, und zwar keineswegs wegen einer lässlichen Formalie. Die Richterin hatte sich … abseits der Verhandlung mit der Staatsanwaltschaft … abgesprochen und sich dafür einen Befangenheitsantrag der Verteidigung eingefangen – zu Recht, befand der BGH. Darum muss der Prozess wiederholt werden. …
… Mit der Haftprüfung waren die Verteidiger … auch erfolgreich. Die 1. Jugendkammer …, die jetzt zuständig ist, setzte den Haftbefehl nicht nur außer Vollzug, sondern hob ihn komplett auf.
Begründung: Der Haftgrund [richtig: die Grundlage] sei entfallen, nämlich der dringende Tatverdacht. Vorher hatte sie die Aussage des wichtigsten Belastungszeugen auf ihre Glaubwürdigkeit untersuchen lassen – mit eindeutigem Ergebnis: Sie beruhe nicht auf tatsächlichem Erleben.
Verletzungen an der Leiche „gigantisch“
…
Am Abend des 2. Oktober war … [Hanna W.] zuerst zum „Vorglühen“ bei Freunden. Von „Vorglühen“ sprachen zuerst die Ermittler der Kripo … Der … Profiler Alexander Horn, der in seinem Gutachten die These vertritt, ein Täter habe Hanna W. von hinten angegriffen, übernimmt ihn. „Vorglühen“ schreibt auch der Staatsanwalt in die Anklageschrift und übernimmt außerdem die These vom hinterrücks angreifenden Täter. Während der mündlichen Verhandlung … gehört das „Vorglühen“ zum Wortschatz aller Prozessparteien. …
Nach dem „Vorglühen“ gingen Hanna W. und ihre Freunde in die Diskothek „Eiskeller“. Gegen halb drei verabschiedete sie sich. Die Nacht hatte Spuren hinterlassen. Sie hatte mehr als zwei Promille Alkohol im Blut. Der seitliche Reißverschluss ihrer schwarzen Hose war kaputtgegangen und gab den Blick auf ihren Slip frei. Am nächsten Tag fand ein Spaziergänger ihre Leiche …
Noch am selben Abend obduzierten zwei Münchner Rechtsmediziner die Leiche, auf mündliche Anordnung von Staatsanwalt … Fiedler. Sie attestierten Ertrinken als Todesursache. Ein Sexualdelikt schlossen sie aus. Die Mediziner stellten fünf Wunden am Kopf fest. Sie könnten von einem kleinen, stumpfen Gegenstand stammen, schrieb die Kripo in den Ermittlungsbericht. Er liegt WELT vor. …
Außerdem beschrieben die Obduzenten schwere Verletzungen im Schulterbereich. Eine spätere Computertomografie zeigte den Bruch beider Schulterdächer – eine seltene Verletzung, die nur mit außergewöhnlicher Gewalt zugefügt werden kann – und zusätzlich die Fraktur des fünften Halswirbels.
Drei Tage später telefonierte eine Kripo-Ermittlerin, Diana U., mit Rechtsmedizinerin … Mützel. Sie besprachen die Frage, ob Hanna W. bei einem Unfall ums Leben kam oder ob es eine Gewalttat war, womöglich Mord. Kripo-Ermittlerin U. habe der Medizinerin neue Erkenntnisse geschildert, heißt es im Ermittlungsbericht. Ermittlerin und Medizinerin hätten über die Ursachen der Verletzungen gesprochen. Die Medizinerin habe sich festgelegt: Die Verletzungen … seien „gigantisch“, soll die Ärztin gesagt haben. Sie habe eindeutig festgestellt, das könne nicht beim Treiben durchs Wasser passiert sein.
Das könnte der Punkt gewesen sein, ab dem die Ermittlungen nur noch eine Richtung kannten. Die Möglichkeit eines Unfalls findet sich im Ermittlungsbericht nur noch am Ende in der Zusammenfassung – mit der Feststellung, darauf hätten sich keine Hinweise gefunden. Es sei vielmehr von einem gewaltsamen Übergriff auszugehen.
Die Kripo gründete eine Sonderkommission … und machte sich daran, einen Täter zu finden.
Er hat die Tat nie gestanden
Sebastian T. war … auf einer nächtlichen Joggingrunde. Zeugen sahen ihn, allerdings nur allein beim Joggen, nicht mit Hanna W. Die Polizei suchte „den Jogger“ als Zeugen. Seine Mutter meldete sich und schickte den Sohn zur Vernehmung. Die drehte sich schnell – von der Zeugen- zur Beschuldigtenvernehmung. T. geriet unter Verdacht und musste in Untersuchungshaft. Am Ende standen Anklage und Prozess.
Polizei, Staatsanwaltschaft und dann gleich zum Prozessauftakt auch die Vorsitzende Richterin … Aßbichler drängten ihn zu einem Geständnis. T. gestand aber nicht.
Während des Prozesses fand sich dann allerdings ein Zeuge, dem T. den Angriff auf Hanna W. gestanden haben soll. Dieser Zeuge, Adrian M., saß ebenfalls in Untersuchungshaft. …
Adrian M. ist psychisch angeschlagen: Borderline-Störung und „dissoziale Persönlichkeitsstörung“ bescheinigt ihm ein psychiatrisches Gutachten. Ein Glaubwürdigkeitsgutachten für seine Aussage lehnte Aßbichlers Kammer ab. Genau um diesen Zeugen ging es dann allerdings in den E-Mails der Richterin mit Staatsanwalt Fiedler. … Das ließ sich als Aufforderung an den Anklagevertreter lesen, in diesem von ihr gewünschten Sinn zu plädieren.
Einem lokalen Fernsehsender [siehe
RFO, ca. ab Min. 10:45] gewährte Aßbichler Einblick in ihre Richtertätigkeit und beantwortete die Frage, ob es schon einmal einen Moment gegeben habe, wo sie sich gedacht habe, ob eine Entscheidung doch nicht die richtige war, so: „Also den Moment hat es nie gegeben. Es hat einmal einen Moment gegeben, wo ich wusste, dass der Angeklagte schuldig war, aber wir mussten ihn freisprechen.“
Polizei sieht keine „systematischen Fehler“
Inzwischen hat Verteidigerin Rick zusammen mit der Familie des Sebastian T. auf eigene Faust weiter ermittelt und eigene Gutachten in Auftrag gegeben. Der Hamburger Rechtsmediziner Klaus Püschel befand, alle Verletzungen könnten auch nach dem Tod … entstanden sein.
Ein Team um den Aachener Hydrologen Holger Schüttrumpf kommt zu dem Ergebnis, Hannas Leiche könne gegen das Wehr [richtig: Schütz] eines Wasserkraftwerks in der Prien gespült worden sein. Dort ragen 24 Millimeter große Schraubenmuttern in die Strömung, mit denen das Wehr [richtig: Schütz] montiert ist. Seitlich wird das Wasser über eine Stufe [richtig: ein Wehr] in den Hauptarm des Flusses geleitet. Hanna W. könnte mehrmals mit dem Kopf gegen das Wehr [richtig: Schütz] und die Schrauben gestoßen und dann die Staustufe [richtig: das Wehr] herabgestürzt sein, wo sie auf Steine und Stahlstreben getroffen sein könnte.
Die Polizeiermittler haben dasselbe Wehr auch gesehen und fotografiert. Ein Bild davon findet sich in der Akte. Die Schrauben und die Staustufe werden allerdings nicht erörtert.
Das Rosenheimer Polizeipräsidium teilt auf WELT-Anfrage mit, man habe ergebnisoffen und in alle Richtungen ermittelt – auch in Richtung eines Unfalls. Die Beamtin Diana U. sei eine „hoch erfahrene Ermittlerin“.
U. ermittelte auch im Fall des zu Unrecht wegen Mordes verurteilten Manfred … [G.]. Auch hier gehörte sie zu denen, die die Mordthese vertraten und einen Unfall ausschlossen.
„Wir sehen keine systematischen Fehler“, schreibt ein Polizeisprecher. „Die Kolleginnen und Kollegen der Soko haben aus unserer Sicht eine hervorragende Arbeit geleistet!“
Welt.de am 14.07.2025
https://www.welt.de/politik/deutschland ... rbeit.html