von Gast. » Montag, 10. Mai 2021, 23:31:29
https://uebermedien.de/59531/der-gefaeh ... obal-de-DE
„Erlösung“ als Motiv?
1. Mai 2021
Der gefährliche Versuch, Gewalt gegen Menschen mit Behinderung nachvollziehbar zu machen
von Lisa Kräher
Nach einer schlimmen Gewalttat gehen Medien auf die Suche nach Expert*innen. Meistens nach Psycholog*innen oder Profiler*innen, die dem noch ahnungs- bzw. fassungslosen Publikum erklären sollen, warum jemand eine bestimmte Tat begangen hat.
So war das auch am Donnerstag im rbb-Fernsehen. Nachdem in Postdam vier Menschen getötet wurden – eine fünfte Person wurde schwer verletzt – stand sie natürlich im Raum: die Frage nach dem Warum.
Bei den Opfern, die am vergangenen Mittwoch laut Polizei durch „schwere äußere Gewaltanwendung“ getötet worden waren, handelte es sich um zwei Männer und zwei Frauen, die im Thusnelda-von-Saldern-Haus im Stadtteil Babelsberg lebten; in einem Wohnhaus für Menschen mit Behinderung, das zum christlichen Verein „Oberlinhaus“ gehört.
Trauer um die Opfer am Babelsberger Oberlinhaus
Foto: Imago / Martin Müller
„Was könnte jemanden dazu bewegen, so eine Tat zu begehen?“, fragte die Sprecherin des Beitrags, der am Donnerstagabend im Magazin „zibb – Zuhause in Berlin & Brandenburg“ lief. Polizeipsychologe Dr. Gerd Reimann lieferte gleich mehrere mögliche Gründe:
„Als erstes natürlich schwere Konflikte zwischen Täter und den Opfern. Zum Zweiten natürlich auch eine dramatische Überforderung des Täters in dieser Situation. Es kann aber auch sein, dass eine Motivation dahinter steht, die Leute zu erlösen von Leiden, die vielleicht sogar unheilbar sind.“
Der Experte von der Polizei spricht im Kontext einer brutalen Gewalttat gegen Menschen mit Behinderung tatsächlich von „erlösen“ als Motiv. Gut, er hat in Psychologie promoviert und nicht in Geschichte. Trotzdem sollte er wissen, dass der Begriff „Erlösung“ in diesem Zusammenhang eher so im Jahr 1941 üblich war.
Die viel drängendere Frage ist allerdings: Warum sendet der rbb diese Aussage überhaupt so oder ordnet sie nicht wenigstens kritisch ein?
Eine Antwort: Weil sich viele Medien nach wie vor sehr schwer damit tun, über Menschen mit Behinderung zu berichten. Und vor allem über Gewalt gegen Menschen mit Behinderung. Weil sie wahrscheinlich gar nicht so richtig bemerkt haben, was das Problem an einem Zitat wie dem von Reimann ist.
Eine Art von „Victim Blaming“
Bei der Berichterstattung über Gewalt gegen Frauen hat sich, wenn auch schleppend, etwas gebessert: Das Sie-war-freizügig-gekleidet-Argument, mit dem man Frauen eine Mitschuld an ihrer Vergewaltigung unterstellt, würde heute zumindest von offizieller Seite so kein Experte im Fernsehen mehr vom Stapel lassen. Und wenn, dann gäbe es einen medialen Sturm der Entrüstung.
Die Autorin
Lisa Kräher hat bei der „Mittelbayerischen Zeitung“ volontiert und lebt als freie Journalistin und Filmemacherin in Nürnberg.
Das Zitat, das im rbb gesendet wurde, folgt allerdings einem ähnlichen Narrativ: Menschen mit Behinderung würden Konflikte verursachen, sie seien anstrengend („Überforderung“) und deshalb irgendwie mitverantwortlich für so eine Tat. Und sie würden an ihrer Behinderung leiden.
Das alles schafft Verständnis für die Person, die die Tat begeht, im Potsdamer Fall wohl eine 51-jährige Frau, die für das Oberlinhaus gearbeitet hat. Die Gründe „Überforderung“ und „Erlösung“ entsprechen hier sozusagen dem „Minirock“-Argument. Eine Art von „Victim Blaming“, zu Deutsch: Täter-Opfer-Umkehr.
Der rbb ist nicht alleine, wenn es darum geht, Verständnis für die mutmaßliche Täterin zu schaffen. Für die „B.Z“ haben zwölf Reporter*innen folgendes zur sogenannten „Tragödie“ in Potsdam recherchiert:
„Menschen, die sie kennen, beschreiben sie als starke Frau. Zusammen mit ihrem Mann Timo, der als Hausmeister arbeitet, zog sie zwei Söhne groß. Ihr jüngster arbeitete an einer Tankstelle, der älteste ist schwerstbehindert. ‚Er ist Autist, lebt auch in der diakonischen Einrichtung‘, so eine Nachbarin. ‚Ich habe Ines immer bewundert, wie sie das alles schafft. Die Altenpflege und dann das mit ihrem Sohn‘, sagt die Frau.“
Soll das heißen, dass es eine Tat wie diese nachvollziehbarer oder wahrscheinlicher macht, wenn das Kind Autismus hat? Und wie ist es für Autist*innen oder, wie es im Text heißt, „schwerstbehinderte“ Menschen, einen Satz wie diesen zu lesen?
Außerdem: Wenn schon zwölf Reporter*innen an der Story beteiligt waren, hätte man auch ein bisschen mehr über die Opfer schreiben können. Dennoch geht es im „B.Z.“-Artikel um sie nur am Rande. Wie alt sie waren, ist da zu lesen. Und dass eines der Opfer vor Jahren bei einem Autounfall schwere Hirnschäden erlitten hatte und offenbar die Tante von jemandem war. Sonst steht nicht viel mehr im Artikel.
Stattdessen werden die Getöteten im „B.Z.“-Text verniedlichend als „Schützlinge“ bezeichnet. Nur ein Beispiel für die behindertenfeindliche Sprache, die bei der Berichterstattung über die Gewalttat in Potsdam immer wieder auffällt. Auch der Potsdamer Oberbürgermeister wird in vielen Texten zitiert, wie „aufopferungsvoll“ sich die Pflegekräfte in den Einrichtungen des Oberlinhauses um die Bewohner*innen kümmerten. Das ist vielleicht wertschätzend gemeint. Stellt aber Pflege so dar, als sei sie keine Dienstleistung, sondern eben ein Opfer, das die Mitarbeiter*innen bringen.
Auch die Autorin und Aktivistin Laura Gehlhaar kritisierte die ableistische Art der Berichterstattung auf Twitter:
Medien & Politik, hört auf von den „besonders Schutzlosen“ oder „Schwächsten“ zu sprechen. Das ist #othering und #ableismus in seiner Höchstform! Ihr macht eine Spaltung in IHR und WIR auf. Hört auf damit! #potsdam @derspiegel #zdfmagazin @Tagesspiegel
— Laura Gehlhaar (@LauraGehlhaar) April 29, 2021
In einem Video bei „Bild.de“ war die Rede davon, dass die Toten in ihren „Krankenzimmern“ aufgefunden worden seien. Andere Medien bezeichnen das Saldernhaus fälschlicherweise als Klinik. Was den Eindruck befeuert, als sei Behinderung gleich Krankheit. Es ist korrekt, dass im Saldernhaus auch Menschen leben, die schwere Schädel-Hirn-Verletzungen erlitten haben. Dennoch: Die Tatorte waren die Zimmer der Opfer. Ihr Zuhause, in dem sie seit Jahren lebten.
Ein strukturelles Problem
Der rbb hat am Donnerstagabend in einem viertelstündigen „Spezial“ die Tat genauer beleuchtet. Darin läuft unter anderem ein Beitrag über die verschiedenen Angebote der christlichen Einrichtungen, zusammengeschnitten aus Archiv-Material der vergangenen Jahre. Allein durch die Anmoderation wirkt dieser kaum noch redaktionell, sondern eher wie ein Imagefilm: „Das Oberlinhaus ist als christliche Einrichtung stolz auf ein ‚Mehr an Zuwendung‘“. Fast genauso steht es auch auf der Homepage des Unternehmens.
Die drei Minuten des Beitrages hätte man auch dafür nutzen können, das Thema Gewalt gegen Menschen mit Behinderung, speziell in Einrichtungen, als strukturelles Problem aufzugreifen. Oder die Wohnformen zu hinterfragen, in denen viele Menschen mit Behinderung leben. „Denn diese Heime sind ‚totale Institutionen‘. In ihnen werden aus Sicht der Öffentlichkeit behinderte Menschen leicht und effektiv versorgt, aber diese Systeme sind anfälliger für Gewalt“, schreibt der Menschenrechtsaktivist Raul Krauthausen im Magazin „Neue Norm“.
Menschen mit Behinderung sind von sexualisierten, körperlichen und psychischen Übergriffen zwei bis viermal häufiger betroffen als der Durchschnitt der Bevölkerung. Im Januar war zum Beispiel bekannt geworden, dass Mitarbeiter*innen in einer Einrichtung im nordrhein-westfälischen Bad Oeynhausen Bewohner*innen illegal fixiert, eingesperrt und verletzt haben sollen.
Auch das ist ein Thema, das man in der Berichterstattung zu Potsdam nochmal hätte aufgreifen können. Das Podcast-Radio „detektor.fm“ hat das am Freitag als eines von wenigen Medien getan.
Fehlende Opferperspektiven
Die „Potsdamer Neueste Nachrichten“ suchten sich stattdessen auch einen „Profiler“ und überschrieben das Interview mit dem Zitat „Ein sehr ungewöhnlicher Fall”. Der Kriminalist, der auch als „Berater des Bremer ‚Tatorts'“ vorgestellt wird, erklärt darin, dass die Behinderung der Opfer „tatsächlich ein Ansatz für eine Erklärung sein“ sein könnte. Man hätte jetzt fragen können, ob das öfter vorkommt, dass Menschen in Einrichtungen Gewalt erfahren. Stattdessen kommt:
„Sie meinen Kriminalfälle, bei denen Täter eine Form von Sterbehilfe leisten wollen?“
Wobei wir wieder beim Argument „erlösen“ wären.
Dass Art und Weise der Tat „in diesem Einzelfall“ sehr ungewöhnlich seien, wie der Kriminalist sagt, mag stimmen, und es ist wichtig, nicht zu spekulieren. Sicher spielt der psychische Zustand der mutmaßlichen Täterin eine Rolle. Aber strukturelle Gewalt in Einrichtungen in diesem Kontext zu erwähnen und Opferperspektiven einzunehmen – wenn man schon „Spezial“-Sendungen zum Thema macht – unterstellt der Verdächtigen in diesem „Einzelfall“ ja noch nichts.
Als Einzelfälle werden auch Morde an Frauen immer wieder dargestellt. Häufig ist da verschleiernd von einem „Beziehungsdrama“ die Rede.
Es gibt dafür ein Wort: „Femizid“. Auch wenn der Begriff längst nicht flächendeckend etabliert ist, nutzen ihn doch mittlerweile einige Medien. Es ist ein Wort, das den geschlechtsspezifischen Charakter einer Tat beschreibt, also ausdrückt, dass eine Frau Opfer wurde, weil sie eine Frau ist. Es ist ein Begriff, der Bewusstsein schafft. Für Gewalt an Menschen mit Behinderung scheint so ein Bewusstsein noch zu fehlen.
[quote]https://www.deutschlandfunk.de/nach-tod ... _id=496757
[color=#40BF40][size=150]Nach Todesfällen in Behinderteneinrichtung Debatte über Gewalt und Abhängigkeit
[/size][/quote]
https://uebermedien.de/59531/der-gefaehrliche-versuch-gewalt-gegen-menschen-mit-behinderung-nachvollziehbar-zu-machen/?utm_source=pocket-newtab-global-de-DE
[size=150]„Erlösung“ als Motiv?[/size]
1. Mai 2021
Der gefährliche Versuch, Gewalt gegen Menschen mit Behinderung nachvollziehbar zu machen
von Lisa Kräher
Nach einer schlimmen Gewalttat gehen Medien auf die Suche nach Expert*innen. Meistens nach Psycholog*innen oder Profiler*innen, die dem noch ahnungs- bzw. fassungslosen Publikum erklären sollen, warum jemand eine bestimmte Tat begangen hat.
So war das auch am Donnerstag im rbb-Fernsehen. Nachdem in Postdam vier Menschen getötet wurden – eine fünfte Person wurde schwer verletzt – stand sie natürlich im Raum: die Frage nach dem Warum.
Bei den Opfern, die am vergangenen Mittwoch laut Polizei durch „schwere äußere Gewaltanwendung“ getötet worden waren, handelte es sich um zwei Männer und zwei Frauen, die im Thusnelda-von-Saldern-Haus im Stadtteil Babelsberg lebten; in einem Wohnhaus für Menschen mit Behinderung, das zum christlichen Verein „Oberlinhaus“ gehört.
Trauer um die Opfer am Babelsberger Oberlinhaus
Foto: Imago / Martin Müller
„Was könnte jemanden dazu bewegen, so eine Tat zu begehen?“, fragte die Sprecherin des Beitrags, der am Donnerstagabend im Magazin „zibb – Zuhause in Berlin & Brandenburg“ lief. Polizeipsychologe Dr. Gerd Reimann lieferte gleich mehrere mögliche Gründe:
„Als erstes natürlich schwere Konflikte zwischen Täter und den Opfern. Zum Zweiten natürlich auch eine dramatische Überforderung des Täters in dieser Situation. Es kann aber auch sein, dass eine Motivation dahinter steht, die Leute zu erlösen von Leiden, die vielleicht sogar unheilbar sind.“
Der Experte von der Polizei spricht im Kontext einer brutalen Gewalttat gegen Menschen mit Behinderung tatsächlich von „erlösen“ als Motiv. Gut, er hat in Psychologie promoviert und nicht in Geschichte. Trotzdem sollte er wissen, dass der Begriff „Erlösung“ in diesem Zusammenhang eher so im Jahr 1941 üblich war.
Die viel drängendere Frage ist allerdings: Warum sendet der rbb diese Aussage überhaupt so oder ordnet sie nicht wenigstens kritisch ein?
Eine Antwort: Weil sich viele Medien nach wie vor sehr schwer damit tun, über Menschen mit Behinderung zu berichten. Und vor allem über Gewalt gegen Menschen mit Behinderung. Weil sie wahrscheinlich gar nicht so richtig bemerkt haben, was das Problem an einem Zitat wie dem von Reimann ist.
Eine Art von „Victim Blaming“
Bei der Berichterstattung über Gewalt gegen Frauen hat sich, wenn auch schleppend, etwas gebessert: Das Sie-war-freizügig-gekleidet-Argument, mit dem man Frauen eine Mitschuld an ihrer Vergewaltigung unterstellt, würde heute zumindest von offizieller Seite so kein Experte im Fernsehen mehr vom Stapel lassen. Und wenn, dann gäbe es einen medialen Sturm der Entrüstung.
Die Autorin
Lisa Kräher hat bei der „Mittelbayerischen Zeitung“ volontiert und lebt als freie Journalistin und Filmemacherin in Nürnberg.
Das Zitat, das im rbb gesendet wurde, folgt allerdings einem ähnlichen Narrativ: Menschen mit Behinderung würden Konflikte verursachen, sie seien anstrengend („Überforderung“) und deshalb irgendwie mitverantwortlich für so eine Tat. Und sie würden an ihrer Behinderung leiden.
Das alles schafft Verständnis für die Person, die die Tat begeht, im Potsdamer Fall wohl eine 51-jährige Frau, die für das Oberlinhaus gearbeitet hat. Die Gründe „Überforderung“ und „Erlösung“ entsprechen hier sozusagen dem „Minirock“-Argument. Eine Art von „Victim Blaming“, zu Deutsch: Täter-Opfer-Umkehr.
Der rbb ist nicht alleine, wenn es darum geht, Verständnis für die mutmaßliche Täterin zu schaffen. Für die „B.Z“ haben zwölf Reporter*innen folgendes zur sogenannten „Tragödie“ in Potsdam recherchiert:
„Menschen, die sie kennen, beschreiben sie als starke Frau. Zusammen mit ihrem Mann Timo, der als Hausmeister arbeitet, zog sie zwei Söhne groß. Ihr jüngster arbeitete an einer Tankstelle, der älteste ist schwerstbehindert. ‚Er ist Autist, lebt auch in der diakonischen Einrichtung‘, so eine Nachbarin. ‚Ich habe Ines immer bewundert, wie sie das alles schafft. Die Altenpflege und dann das mit ihrem Sohn‘, sagt die Frau.“
Soll das heißen, dass es eine Tat wie diese nachvollziehbarer oder wahrscheinlicher macht, wenn das Kind Autismus hat? Und wie ist es für Autist*innen oder, wie es im Text heißt, „schwerstbehinderte“ Menschen, einen Satz wie diesen zu lesen?
Außerdem: Wenn schon zwölf Reporter*innen an der Story beteiligt waren, hätte man auch ein bisschen mehr über die Opfer schreiben können. Dennoch geht es im „B.Z.“-Artikel um sie nur am Rande. Wie alt sie waren, ist da zu lesen. Und dass eines der Opfer vor Jahren bei einem Autounfall schwere Hirnschäden erlitten hatte und offenbar die Tante von jemandem war. Sonst steht nicht viel mehr im Artikel.
Stattdessen werden die Getöteten im „B.Z.“-Text verniedlichend als „Schützlinge“ bezeichnet. Nur ein Beispiel für die behindertenfeindliche Sprache, die bei der Berichterstattung über die Gewalttat in Potsdam immer wieder auffällt. Auch der Potsdamer Oberbürgermeister wird in vielen Texten zitiert, wie „aufopferungsvoll“ sich die Pflegekräfte in den Einrichtungen des Oberlinhauses um die Bewohner*innen kümmerten. Das ist vielleicht wertschätzend gemeint. Stellt aber Pflege so dar, als sei sie keine Dienstleistung, sondern eben ein Opfer, das die Mitarbeiter*innen bringen.
Auch die Autorin und Aktivistin Laura Gehlhaar kritisierte die ableistische Art der Berichterstattung auf Twitter:
Medien & Politik, hört auf von den „besonders Schutzlosen“ oder „Schwächsten“ zu sprechen. Das ist #othering und #ableismus in seiner Höchstform! Ihr macht eine Spaltung in IHR und WIR auf. Hört auf damit! #potsdam @derspiegel #zdfmagazin @Tagesspiegel
— Laura Gehlhaar (@LauraGehlhaar) April 29, 2021
In einem Video bei „Bild.de“ war die Rede davon, dass die Toten in ihren „Krankenzimmern“ aufgefunden worden seien. Andere Medien bezeichnen das Saldernhaus fälschlicherweise als Klinik. Was den Eindruck befeuert, als sei Behinderung gleich Krankheit. Es ist korrekt, dass im Saldernhaus auch Menschen leben, die schwere Schädel-Hirn-Verletzungen erlitten haben. Dennoch: Die Tatorte waren die Zimmer der Opfer. Ihr Zuhause, in dem sie seit Jahren lebten.
Ein strukturelles Problem
Der rbb hat am Donnerstagabend in einem viertelstündigen „Spezial“ die Tat genauer beleuchtet. Darin läuft unter anderem ein Beitrag über die verschiedenen Angebote der christlichen Einrichtungen, zusammengeschnitten aus Archiv-Material der vergangenen Jahre. Allein durch die Anmoderation wirkt dieser kaum noch redaktionell, sondern eher wie ein Imagefilm: „Das Oberlinhaus ist als christliche Einrichtung stolz auf ein ‚Mehr an Zuwendung‘“. Fast genauso steht es auch auf der Homepage des Unternehmens.
Die drei Minuten des Beitrages hätte man auch dafür nutzen können, das Thema Gewalt gegen Menschen mit Behinderung, speziell in Einrichtungen, als strukturelles Problem aufzugreifen. Oder die Wohnformen zu hinterfragen, in denen viele Menschen mit Behinderung leben. „Denn diese Heime sind ‚totale Institutionen‘. In ihnen werden aus Sicht der Öffentlichkeit behinderte Menschen leicht und effektiv versorgt, aber diese Systeme sind anfälliger für Gewalt“, schreibt der Menschenrechtsaktivist Raul Krauthausen im Magazin „Neue Norm“.
Menschen mit Behinderung sind von sexualisierten, körperlichen und psychischen Übergriffen zwei bis viermal häufiger betroffen als der Durchschnitt der Bevölkerung. Im Januar war zum Beispiel bekannt geworden, dass Mitarbeiter*innen in einer Einrichtung im nordrhein-westfälischen Bad Oeynhausen Bewohner*innen illegal fixiert, eingesperrt und verletzt haben sollen.
Auch das ist ein Thema, das man in der Berichterstattung zu Potsdam nochmal hätte aufgreifen können. Das Podcast-Radio „detektor.fm“ hat das am Freitag als eines von wenigen Medien getan.
Fehlende Opferperspektiven
Die „Potsdamer Neueste Nachrichten“ suchten sich stattdessen auch einen „Profiler“ und überschrieben das Interview mit dem Zitat „Ein sehr ungewöhnlicher Fall”. Der Kriminalist, der auch als „Berater des Bremer ‚Tatorts'“ vorgestellt wird, erklärt darin, dass die Behinderung der Opfer „tatsächlich ein Ansatz für eine Erklärung sein“ sein könnte. Man hätte jetzt fragen können, ob das öfter vorkommt, dass Menschen in Einrichtungen Gewalt erfahren. Stattdessen kommt:
„Sie meinen Kriminalfälle, bei denen Täter eine Form von Sterbehilfe leisten wollen?“
Wobei wir wieder beim Argument „erlösen“ wären.
Dass Art und Weise der Tat „in diesem Einzelfall“ sehr ungewöhnlich seien, wie der Kriminalist sagt, mag stimmen, und es ist wichtig, nicht zu spekulieren. Sicher spielt der psychische Zustand der mutmaßlichen Täterin eine Rolle. Aber strukturelle Gewalt in Einrichtungen in diesem Kontext zu erwähnen und Opferperspektiven einzunehmen – wenn man schon „Spezial“-Sendungen zum Thema macht – unterstellt der Verdächtigen in diesem „Einzelfall“ ja noch nichts.
Als Einzelfälle werden auch Morde an Frauen immer wieder dargestellt. Häufig ist da verschleiernd von einem „Beziehungsdrama“ die Rede.
Es gibt dafür ein Wort: „Femizid“. Auch wenn der Begriff längst nicht flächendeckend etabliert ist, nutzen ihn doch mittlerweile einige Medien. Es ist ein Wort, das den geschlechtsspezifischen Charakter einer Tat beschreibt, also ausdrückt, dass eine Frau Opfer wurde, weil sie eine Frau ist. Es ist ein Begriff, der Bewusstsein schafft. Für Gewalt an Menschen mit Behinderung scheint so ein Bewusstsein noch zu fehlen.[/color]